Jeder von uns kennt so ein Zimmer aus der Kindheit, manchmal war es versperrt, manchmal roch es seltsam, manchmal sahen wir eine fremde Person darin. Andreas Maier nennt seinen Roman über die Kindheit, die Vergangenheit und über Außenseiter in den sechziger Jahren streng im Sinne einer Erinnerungskammer: Das Zimmer. Ein ganzes Jahrzehnt ist an der Figur des Onkels J. aufgezäumt, dem dieses Erinnerungszimmer gehört hat, aber der Erzähler gibt unumwunden zu: "Ich habe J.s Zimmer nie betreten." (15) Gerüchtehalber soll es sich im Zimmer abgespielt haben, denn Onkel J. hat einen starken Geschlechtstrieb und bespringt alles, was ihm wie das Unterteil einer Hüfte ausschaut. Onkel J. ist einerseits ein Sonderling, eine Zangengeburt mit leicht lädiertem Schädel, ziemlich wortkarg und geil, andererseits entspricht er dem Durchschnittsdeutschen in der Gegend von Frankfurt, fährt mit Hingabe einen VW-Variant und kann sich nach Dienstschluss im Bordell-Viertel stundenlang nicht entschließen, welches Etablissement er betreten soll. Nach einer desaströsen Erziehung darf Onkel J. einmal für kurze Zeit aus der sogenannten Wetterau hinaus und an den Rhein, dort wird er vom Garten heraus von Adenauer gegrüßt, der ihn offensichtlich nicht kennt. Auch sonst hat das Schrullige ständig Saison, der Variant wird zuerst abgestellt, dann trinkt Onkel J. sein Begrüßungsbier, erst dann kommt der Wagen in die Garage. Gesoffen wird ordentlich, aber man nennt es nicht so. Bei allen Tätigkeiten hat man eine Zigarette im Mundwinkel und ein paar Krüge Bier intus. Leider sind mittlerweile nicht nur die meisten Berufe ausgestorben, es gilt auch überall Rauch- und Alkoholverbot. Der Ich-Erzähler erinnert sich bis in Kleinigkeiten hinein, dazu helfen vor allem die Kleidung und der Geruch des Onkels. Die Kleidung ist braun wie bei der SA und erzählt in diesem Farbton von der düsteren Vergangenheit des Landes, der Geruch ist so streng, dass man die Beschreibung von Körperhygiene von vorne herein entfallen lassen kann. Überhaupt ist alles früher erdiger, brauner, langsamer und geruchsintensiver gewesen. Das Zimmer erweist sich letztlich als bewohnbare Vitrine, in welche sich die Figur samt der auszustellenden Zeit selbst hineinlegt. Onkel J. ist ein idealer Guide durch die jüngere Zeitgeschichte, indem er nichts erzählt sondern einfach vorlebt. Und im Zweifelsfalle dient das Muster eines ironischen Heimatromans dazu, eine hundsgewöhnliche Familiengeschichte in der Semi-Provinz im Umfeld von Frankfurt zu erzählen. - Eine unterhaltsame und süffisant distanzierte Methode, die jüngere Vergangenheit samt den Mottenkugeln der Erinnerung zu erzählen. *Helmuth Schönauer*
Personen: Maier, Andreas
Standort: U Bücher
Maier, Andreas:
Das Zimmer / Andreas Maier. - Berlin : Suhrkamp, 2010. - 202 S.
ISBN 978-3-518-42174-1 fest geb. : ca. Eur 18,40
Belletristik, Filme, Hörbücher - Signatur: U Maier - Buch