Vom Ankommen in der Fremde, vom Ankommen bei sich: Die Geschichte einer jungen Frau zwischen den Kulturen, zwischen der Vojvodina und der Schweiz. (DR) "Wir haben hier noch kein menschliches Schicksal, das müssen wir uns erst noch erarbeiten." (S. 85) Dieser Satz ist zum Motto der hart arbeitenden Eltern von Ich-Erzählerin Ildikó Kocsis geworden, die aus dem Norden Serbiens in die Schweiz emigrierten, um sich im Westen eine neue Existenz aufzubauen. Sie, die Kinder Ildi und Nomi, sollten "es einmal besser haben". Präzise beschreibt Melinda Nadj Abonji, 1968 in Becsej, Serbien, geboren und seit 1973 in der Schweiz wohnhaft, den Seelenkonflikt Ildikós, die zwischen den Kulturen steht, ein "Mischwesen" ist (S. 160), das sich trotz dem sicheren Zuhause in der Schweiz hier nicht immer angenommen fühlt, sich zurücksehnt in ihr altes Leben an der Seite der Großmutter, in ihre Heimat in der Vojvodina, wo die ungarische Minderheit lebt, zu der ihre Familie gehört. Die intelligente Ildi, die sich als Bedienstete im Café ihrer Eltern immer mehr ihrer Identität beraubt fühlt, die die Demut, mit der sich ihre Eltern in fremdenfeindliche Situationen fügen, nicht versteht, merkt zunehmend, dass sie verschwinden muss aus dieser Art Leben, bevor sie ganz zur immer freundlich lächelnden Serviertochter wird. Versiert verschränkt Abonji Gegenwärtiges mit Vergangenem, indem sie Ildi in Reminiszenzen die Geschichte ihrer Familie vor dem Hintergrund des Balkankonflikts zusammensetzen lässt. Lebendig erzählte Erinnerungen an die Kindheit im kommunistischen Jugoslawien, an die späteren Besuche daheim, als man im schokoladefarbenen Chevrolet einfuhr und für Aufsehen sorgte, an die geliebte Mamika, die ihren Mann sehr früh unter tragischen Umständen verlor, wechseln einander ab mit Schilderungen vom Fußfassen in der Schweiz. Als 1992 die Situation am Balkan eskaliert, der Bürgerkrieg ausbricht und der Kontakt zu den Verwandten in der Vojvodina immer spärlicher wird, fühlt man sich hilflos, führt man ein Leben "im Zuschauerraum" (S. 154). Melinda Nadj Abonji zeigt mit dieser Familiengeschichte, die durch die politischen Umbrüche im Jugoslawien des 20. Jahrhunderts von schmerzlichen Einschnitten geprägt ist, äußerst feinsinnig, was Emigration bedeuten, wie sich die Zerrissenheit zwischen Zuhause und Heimat anfühlen kann. Ein Buch, dem man ein paar Seiten Zeit schenken muss, bis man mit dem Erzählduktus vertraut ist. Der mit dem Deutschen und dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnete Roman eignet sich hervorragend für Literaturgesprächskreise und sei allen LiebhaberInnen anspruchsvoller Literatur sehr gerne empfohlen!
Personen: Abonji, Melinda Nadj
Standort: U Bücher
Abonji, Melinda Nadj:
Tauben fliegen auf : Roman / Melinda Nadj Abonji. - 6. Aufl. - Salzburg : Jung und Jung, 2010. - 314 S.
ISBN 978-3-902497-78-9 fest geb. : EUR 22,00
Belletristik, Filme, Hörbücher - Signatur: U Abonj - Buch