Ein Grundstück und ein Haus an einem märkischen See bieten im Laufe eines Jahrhunderts vielen Menschen Heimat und Lebensraum.
Rezension
Es brauchte eine ganze Eiszeit, um den märkischen See entstehen zu lassen. Und trotzdem ist auch er nicht für die Ewigkeit gemacht und wird eines Tages nicht mehr existieren. Vor diesem Hintergrund entfaltet Jenny Erpenbeck eine große, dichte Geschichte, die aus vielen einzelnen Erzählungen besteht, kleinen Geschichten, die jedoch für das Ganze, die Geschichte Deutschlands der letzten hundert Jahre stehen. Mit schlichter, klarer und eindringlicher Sprache wird geschildert, wie ein Schulze mit seinen Töchtern hier lebt, das Grundstück aufteilt und verkauft. Einen Anteil erwirbt eine jüdische Tuchmacherfamilie, die sich in Kriegszeiten trennt, teils auswandert, teils im Dritten Reich ermordet wird. Der andere Teil wird von einem Architekten gekauft, der auf seinem Grund das Haus erbaut. Nach ihnen und ihren Angehörigen kommen ein Rotarmist, eine aus dem Exil heimkehrende Schriftstellerin, eine Besucherin, die Tochter, der Nachbar, die Untermieter. Deren Geschichten fächern sich auf, überschneiden und ergänzen sich und bilden eine groß angelegte, mosaikartige Komposition, in der viele Motive gleichartig und verändert wiederholt werden. Zusammengehalten werden die Schicksale und Erlebnisse der Menschen von dem Grund, dem Haus und dem wortkargen Gärtner, der unablässig und unabhängig vom jeweiligen Bewohner des Hauses seine Arbeit verrichtet. Die Berlinerin Jenny Erpenbeck legt hier nach "Geschichten vom alten Kind", "Tand" und "Wörterbuch" ein Werk vor, von dem einige Geschichten auf wahren Begebenheiten beruhen. "Heimsuchung" ist ein vielschichtiger Titel, die Menschen suchen ein Fleckchen Erde heim, werden ihrerseits vom Schicksal unentrinnbar heimgesucht, während sie doch nur nach einem Heim suchen, das ihnen Heimat, Schutz und Lebensraum bietet. Das Haus jedoch überdauert längst nicht die Zeit, die wohl dem märkischen See gegeben ist und wird zuletzt vom neusten Grundbesitzer abgerissen. Hierfür braucht es keine Eiszeit, sondern zwei Wochen.
Ein spannendes, stilles, tiefgehendes, überraschendes, nachdenklich machendes, verstörendes, äußerst lesenswertes Buch, das mich gefangen genommen und zum Nachdenken angeregt hat. Ich empfehle das Buch, das für den Preis der Leipziger Buchmesse 2008 nominiert war, allen LeserInnen, die gerne packende und anspruchsvolle Literatur lesen.Rezensent: Stefanie Drüsedau
Personen: Erpenbeck, Jenny
Erpenbeck, Jenny:
Heimsuchung : Roman / Jenny Erpenbeck. - 1. Aufl. - Frankfurt am Main : Eichborn, 2008. - 190 S. ; 22 cm
ISBN 978-3-8218-5773-2 geb. : EUR 17.95
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