Wie wurde aus einer liebevollen Mutter eine kaltblütige Terroristin?
Zum zweiten Mal nach "Götterdämmerung" (BP 04/189) thematisiert die Autorin kein fernes historisches Ereignis, sondern eines, das die Geschichte der Bundesrepublik entscheidend geprägt hat: den "Deutschen Herbst" 1977. Im Mittelpunkt steht die bevorstehende Entlassung der (fiktiven) RAF-Terroristin Martina Müller im Zuge der Begnadigungen durch Bundespräsident Herzog im Jahr 1998. Sie war an der Ermordung eines Staatssekretärs, seines Fahrers und seiner zwei Leibwächter beteiligt und hat nie auch nur einen Funken Reue für ihre Verbrechen gezeigt. Zu ihrer Tochter Angelika hat sie den Kontakt schon bald nach ihrer Verurteilung abgebrochen, dennoch wendet sich der Gefängnispfarrer an Angelika mit der Bitte, sie möge ihrer Mutter in den ersten Tagen in Freiheit beistehen. Angelika muss sich nach Jahren des Verdrängens wieder ihrer Geschichte stellen. Doch nicht nur die Täterin und ihre Familie kommen zu Wort, Kinkel nimmt sich auch viel Zeit für die Opfer und ihre Geschichte. Die Söhne des Politikers und des Fahrers sowie der einzig überlebende Personenschützer leben auch 20 Jahre nach dem Anschlag immer noch mit diesem Trauma, und die Nachricht von der vorzeitigen Entlassung der Terroristin erschüttert sie alle auf sehr unterschiedliche Weise. - Tanja Kinkel hat für dieses Buch intensiv recherchiert und dann eine kluge, erhellende und sehr bewegende Geschichte geschrieben, die durchaus auch in die heutige Terrorismusdebatte passt. Es gelingt ihr hervorragend, den Punkt zu skizzieren, an dem aus einer idealistischen Weltanschauung eine ideologische Verblendung wird, die Mord als probates Mittel zur Durchsetzung von politischen Zielen betrachtet. Jeder Bücherei nachdrücklich empfohlen.
Personen: Kinkel, Tanja
Kinkel, Tanja:
Schlaf der Vernunft : Roman / Tanja Kinkel. - München : Droemer, 2016. - 446 S.
ISBN 978-3-426-19967-1 Festeinband
Schöne Literatur - Signatur: Kinke - Buch