Man stelle sich eine Mischung aus Sofia Coppolas „Marie Antoinette“ und der Verfilmung von Philip Reeves Steam-Punk Roman „Mortal Engines“ vor, würze das ganze mit eine bisschen Jule Verne und H. G. Wells – und ist dann der auf vier Bände angelegten „Spiegelreisenden“ der jungen französischen Autorin Christelle Dabos jedenfalls auf der Spur. Dass „Die Verlobten des Winters“ (Band 1, im französischen Original schon 2013!) von der deutschsprachigen Kritik teils hymnisch gelobt wurde, ist durchaus nachvollziehbar. Die Mischung aus Motiven, Themen und dramaturgischen Methoden der Abenteuer- und phantastischen Literatur, der Welt der Mythen und des Steampunk (mit dem französischen Ancien régime anstelle des Viktorianischen Zeitalters) ist zwar wild, hat aber eine eigene Note und funktioniert: Die alte Welt, so die Grundkonstruktion, ist in 21 Inseln zersprungen, die Archen genannt werden und weit entfernt voneinander im All hängen; auf jeder Arche leben mehrere Clans einer einzigen Familie samt ihrem „Familiengeist“, einer Art ewig lebender Stammesgottheit, von der alle Familienmitglieder nicht nur abstammen, sondern von der sie auch beherrscht werden. Die Mitglieder mancher Clans sind mit besonderen Fähigkeiten und Kräften ausgestattet: „Miragen“ können Illusionen erzeugen, die aus einer dreckigen verkommenen Kloake eine scheinbar gold glänzende Palaststadt machen. „Drachen“ können mit ihren unsichtbaren Krallen schreckliche Wunden zufügen. Auf der Arche Anima wiederum, auf der Ophelia, die weibliche Hauptfigur lebt, können die Menschen unbelebte Dinge kraft ihres Geistes bewegen. Und Ophelia selbst kann nicht nur durch Spiegel gehen, sondern ist eine „Leserin“: mit ihren Händen kann sie die Geschichte eines Gegenstandes lesen, Gefühle und Gedanken der Menschen nachempfinden, die ihn in der Hand hatten. Sie wird – das ist der Ausgangpunkt des Plots – mit Thorn verlobt, er ist Intendant, eine Art Finanzminister, der Himmelsburg, dem Machtzentrum der Arche Pol. Der Mann ist mit einem enormen Gedächtnis und einem überragenden Geist ausgestattet, aber nicht sehr freundlich. Und ebensowenig beliebt. Die von diesem Szenario ausgehende Handlung, in die zahlreiche Figuren verwickelt sind, ist durchzogen von Familiengeschichten, Geheimnissen und Intrigen, Drohbriefen, Entführungen … Dass die Verknüpfung von alldem wie geschmiert funktioniert, ist nicht selbstverständlich, zumal viele Fäden zusammengehalten werden müssen und lose Enden nicht verloren gehen dürfen. Unter der Haupthandlungsebene gibt es eine weitere, die sich aus kurzen Erinnerungs-Fragmenten speist. Wer dahintersteht, wird auch im zweiten Band nicht entschlüsselt; klar ist aber, dass es dabei um existentielle Grundfragen geht, um die Beschaffenheit jener Kraft, die den Weltenlauf bestimmt und zugleich Dramaturg dieser Geschichte ist, also eine Art übergeordneter Puppenspieler, der alle Fäden in der Hand hat. Zu hoffen bleibt, dass Christelle Dabos ihr literarisches Spiel auch über die zwei noch folgenden Bände so unterhaltsam und spannend gestalten kann, wie ihr das bislang gelungen ist. Siehe weiters: Christelle Dabos: Die Verlobten des Winters (Bd. 1), 2019
Serie / Reihe: Band 2
Personen: Dabos, Christelle
Leseror. Aufstellung: Lesesommer 2020
Dabos, Christelle:
¬Die¬ Verschwundenen vom Mondscheinpalast : Die Spiegelreisende / Christelle Dabos. Aus dem Franz. von Amelie Thoma. - Berlin : Insel Verl., 2019. - 613 S. - (Band 2)
ISBN 978-3-458-17826-2 fest geb. : ca. € 18,50
Jugendbücher (bis 12 Jahre) - Signatur: J Dabo - Buch