Dass Salah Naoura eine Gabe hat für aberwitzige Situationen, fantasievolle Geschichten und leicht exzentrische Charaktere, und dass er geschickt mit Übertreibungen und Verzerrungen arbeitet, ohne dabei die Verbindung zu einer wirklichkeitsnahen und tieferen Erzählebene zu verlieren, wissen wir spätestens seit seinem Roman „Matti, Sami und die drei größten Fehler des Universums“, der 2011 mit dem Peter-Härtling-Preis ausgezeichnet wurde. Auch Naouras jüngster Kinderroman „Hilfe! Ich will hier raus!“, in dem sich Henrik Gruber, ein zehnjähriger Junge, zusammen mit seiner Schwester Fabienne und seinen Eltern auf die im wahrsten Sinne des Wortes „aufwühlende“ Suche nach einem geheimnisvollen Schatz begibt, überzeugt durch die beschriebenen Eigenschaften und wird vom Verlag zu Recht als „Lesevergnügen für die ganze Familie!“ und „voller Witz und Einfallsreichtum“ beschrieben. Was den Roman aber vor allem auszeichnet, ist die leichtfüßig-subversive Inszenierung der Großmutter und seine originelle und unsentimentale Thematisierung von Alter und Demenz. Oma Cordula, die widerborstige und ganz und gar atypische Großmutter von Henrik und Fabienne und die geheime Heldin des Romans, hat im Altersheim jahrelang vorgespielt, sie sei dement, um nach dem Tod ihres Mannes in Ruhe trauern zu können. Nachdem sie das Heim in Brand gesetzt hat, taucht sie völlig unerwartet in dem wohlstrukturierten, ja spießigen Leben ihres Sohnes auf und sorgt mit Vergnügen für jede Menge Unruhe und Chaos: „Die Familie war ja fast noch langweiliger als das Altersheim, fand sie. Sollte sie ihnen Schuhcreme in die Zahnpastatuben füllen? Nein. Ihre Schuhe verstecken? Nein. Einen Frosch ins Bett legen? Zu simpel. Ihre Pillen verstecken? Auch das ging nicht, denn die Grubers schluckten keine Pillen … Juckpulver in die Socken streuen?“ Henrik ist der einzige in seiner Familie, der Oma Cordula trotz ihrer Schroffheit mag und sie gegen die Eltern verteidigt, als sie sie schließlich, der Intrigen müde, des Hauses verweisen. So ist „Hilfe! Ich will hier raus!“ neben seinen Eigenschaften als lustiges und spannendes Kinderbuch, in gewisser Weise eine zeitgemäße Variation auf das Grimm’sche Märchen vom „Alten Großvater und dem Enkel“: Wie dort der kleine Enkel gegenüber den Eltern für seinen Großvater eintritt – die Eltern schicken den Großvater zum Essen in eine Ecke hinter dem Ofen – tritt Henrik für Oma Cordula ein und wird am Ende dafür belohnt: mit einem großartigen Preis, den er zum Glück nicht (mehr) braucht. Die letzte Wendung des Buches ist dann auch der einzige kleine Wermutstropfen, den das Buch in sich birgt: Etwas konstruiert und „pädagogisch zu wertvoll“ wirkt die Entwicklung Henriks von einem tendenziell farblosen Jungen zu einem begeisterten Hobby-Archäologen, der so viel Freude an seiner neuen Leidenschaft hat, dass der Glanz des Geldes ihn nicht mehr interessiert. Abgesehen davon, dass man sich an der einen oder anderen Stelle ein wenig mehr Sprachmut und -poesie wünschen würde – Naouras Sprache wirkt in dem Text fast ausschließlich als transparenter Tragekörper der Geschichte – ist „Hilfe! Ich will hier raus!“ eine gleichermaßen unterhaltsame wie tiefgründige Geschichte.
Personen: Naoura, Salah Jeschke, Stefanie
Naoura, Salah:
Hilfe! Ich will hier raus! / Salah Naoura. Mit Vignetten von Stefanie Jeschke. - Hamburg : Dressler, 2014. - 156 S. : Ill.
ISBN 978-3-7915-1429-1 fest geb. : 12.95
Erzählungen 9-12 Jahre - Signatur: NAO - Buch