Michael Köhlmeier beweist mit seinem neuen Buch einmal mehr seine erzählerischen Qualitäten. Der Roman spielt gekonnt mit historischen Fakten und schriftstellerischer Phantasie. In der Rahmenhandlung beauftragt die 100-jährige Architektin Anouk einen Schriftsteller, ihr Leben als Roman zu erzählen. Aus den Fakten und Schilderungen, die sie in mehreren Gesprächen zum Besten gibt, und den eigenen Recherchen des Erzählers ergibt sich ein spannendes Panorama der Jahre 1917 - 1922 in der neu entstandenen Sowjetunion. Anouk, Tochter von jüdisch-russischen Intellektuellen aus Petersburg, verlässt mit ihren Eltern 1922 zwangsweise das Land auf einem sogenannten Philosophenschiff. In den Anfängen der Sowjetunion wurden tatsächlich mehrere solcher Schiffe mit missliebigen Gegnern der Revolution über die Ostsee geschickt, um jeglichen Widerstand v.a. der Intelligenzija auszuschalten. Viele im Roman genannte Namen und Details sind historisch belegt und nachvollziehbar. Die Gespräche der 14-jährigen Anouk mit dem heimlich aufs Schiff gebrachten Lenin entbehren natürlich jeder Grundlage, sind dafür aber umso faszinierender. Hier entfalten sich grundlegende Gedanken über Macht und Revolution, über Grundstrukturen des Terrors und die immer wieder aufblühende Verwicklung der Menschen in eben diese nicht gewollten Exzesse von Gewalt und Unmenschlichkeit. Zwar liegt der stalinistische Terror schon fast ein Jahrhundert zurück, doch aktuelle Bezüge zu diesen Grundfragen der Menschheit drängen sich zwangsläufig auf. Das Spiel mit Fiktion und Realität ist überzeugend und erschwert keineswegs die Lektüre.
Kirsten Blanck für das Büchereiteam
Personen: Köhlmeier, Michael
Köhlmeier, Michael [Verfasser]:
Das Philosophenschiff : Roman / Michael Köhlmeier. - 1. Auflage. - München : Hanser, 2024. - 221 Seiten ; 21 cm, 314 g. - Haben wir auch als Hörbuch
ISBN 978-3-446-27942-1 Festeinband : EUR 24.00
Romane, Erzählungen - Signatur: Köh - Buch