Die französische Autorin Marie NDiaye, Jg. 1967, ist bereits mit ihren Romanen "Drei starke Frauen" (2009, Prix Goncourt), "Ladivine" (2014) und "Die Chefin" (2017) einer breiten Leserschaft vertraut. Im Zentrum ihres neuesten Werks stehen wiederum drei Frauen. Die Hauptrolle gehört der alleinstehenden Rechtsanwältin Maître Susane aus Bordeaux. Sie übernimmt die Verteidigung der dreifachen Kindsmörderin Marlyne Principaux im Auftrag von deren Ehemann Gilles. Außerdem bestimmen das Verhalten und Schicksalvon Sharon, der illegal bei Susane arbeitendenmaurizischenHaushaltshilfe, das Geschehen. Die Ausgangskonstellation für einen literarisch gestalteten Kriminalfall ist also gegeben -aber damit ist das Faszinierende dieses Textes nur unzureichend erfasst. Von Beginn an werden die Leserinnen auf unsichere Pfade gelenkt, sei es durch die zumeist dominierende Perspektive der Anwältin, deren Beurteilung der Ereignisse in zweifelhafte Interpretationen und Mehrdeutigkeiten münden, sei es durch die korrigierenden Sichtweisen der anderen handelnden Personen. War Me Susane als 10-Jährige tatsächlich im Zimmer des einige Jahre älteren Gilles gewesen? Mögliche Antworten auf diese Frage, die zwischen einem positiven intellektuellen Erweckungserlebnis und sexuellem Missbrauch schwanken, durchziehen den Roman bis zum Schluss und geben dem Beziehungsgeflecht zwischen den Personen Struktur. Alle Sicherheiten über die je eigene Identität scheinen fragil und letztlich nie gewiss zu sein.ImZentrum des Romans stehen die jeweiligen Beschreibungen des Ehelebens von Gilles und Marlyne Principaux, adressiert an die Rechtsanwältin. Hier zeigt sich einmal mehr die stilistische Raffinesse der Autorin: Die Ehefrau beginnt jeden Satz ihres atemlosen Monologs mit "aber", was in dieser zunehmenden Häufung ihren Widerspruch, ihren Ausbruchsversuch aus der Ehe signalisiert, die sie über die Jahre in eine unvorstellbare psychische Notsituation gebracht und zur Mörderin ihrer eigenen kleinen Kinder gemacht hat. Der Ehemann dagegen leitet jeden Satz seiner Schilderung der Beziehung mit "denn" ein, um zu begründen, warum er nur so und nicht anders handeln wollte und konnte zum Wohle der Familie. Beide empfinden starke Schuldgefühle gegenüber dem Partner/der Partnerin.Die Empathie der Anwältin für ihre Mandantin wie auch für Sharon wird immer wieder auf die Probe gestellt. Der Wechsel zwischen liebevoller Zuwendung und harscher Ablehnung auf allen mitmenschlichen Ebenen -so in Bezug auf die Eltern der Protagonistin und ihren ehemaligen Lebensgefährten -manifestiert sich in feinsten psychologischen Abstufungen und auf differenziertem sprachlichen Niveau. Dass sich Me Susanes Bemühungen um Verstehen bei gleichzeitig wachsender Verwirrung auf allen Ebenen auch inkörperlichen Schmerzen widerspiegelt, ist ein weiterer geschickter Kunstgriff. Die vielfach miteinander verschränkten Motive werden bis zum Romanende spannungsreich gestaltet, ohne jedoch die Leserschaft in einfache Wahrheiten und Gewissheiten zu entlassen. Fazit: Ein Leseerlebnis mit kriminalistischer Ausgangssituation, aber eben noch viel mehr!
Kirsten Blanck
Personen: NDiaye, Marie Kalscheuer, Claudia
NDiaye, Marie:
Die Rache ist mein / Marie NDiaye. - 1. Auflage. - Berlin : Suhrkamp, 2021. - 236 Seiten ; 21.4 cm x 13.4 cm, 422 g
ISBN 978-3-518-43031-6 (Preis in Vorbereitung)
Krimi / Thriller - Signatur: Kr NDi - Buch