Fährt man heute über den Reschenpass nach Südtirol in den Vinschgau hinein, so blickt man überrascht auf einen alten Kirchturm, der aus dem riesigen Stausee ragt. Für Touristen ist das eher ein bizarres Fotomotiv vor dem herrlichen Bergpanorama, aber die erschütternde Geschichte dahinter hat nun Marco Balzano mit seinem Roman (dessen Cover mit genau diesem Bild gestaltet ist) eindrücklich offengelegt. Dass ein Kapitel der langen, konfliktbeladenen Beziehung zwischen "Italien" und "Südtirol" von einem Mailänder Bestseller-Autor literarisch verarbeitet wurde, ist von besonderer Bedeutung.

Der Roman erfasst den Zeitraum von ca. 1939 bis 1951. Trina, die junge Deutschlehrerin aus dem landwirtschaftlich geprägten Dorf Graun, erzählt aus ihrer Perspektive in fingierten Briefen an die Tochter Marcia das Geschehen. Sie steht als Deutschsprachige vor der Alternative, entweder ins nationalsozialistische Deutschland auszuwandern oder sich der Italienisierung ihrer Heimat unter Mussolini zu unterwerfen. Sie entscheidet sich für ihr Heimatdorf, um der kulturellen Entwurzelung zu entgehen, und unterrichtet heimlich Deutsch in Heuschobern oder in vom katholischen Pfarrer zur Verfügung gestellten Kellerräumen, stets in Angst vor Entdeckung durch die brutal agierenden Faschisten. Ihr Mann Erich widersetzt sich offen den schon lange bestehenden Plänen zum Bau eines Staudamms, die Ende der 30er Jahre erneut konkreter werden, und sucht Mitstreiter unter den anderen Bauern des Dorfes. Schließlich flieht das Ehepaar vor den Schergen Mussolinis in die Berge und kehrt nach Kriegsende nach Graun zurück. Erich schafft es nicht, sich gegen den Energiekonzern durchzusetzen, trotz prominenter Unterstützung sogar vom Papst aus Rom. Er muss zusehen, wie sein Haus, sein Land unter den Wassermassen begraben werden.

Balzano gelingt es, die Kargheit des Lebens im Bergdorf, das Unvermögen seiner Bewohner, ihre Ängste, Wut und seelischen Verletzungen zu artikulieren, in einer nüchternen und deshalb umso eindrucksvolleren Sprache zu vermitteln. Der Verlust der Tochter, die Entwicklung des Sohnes, die unvorstellbaren Entbehrungen und Todesängste, die bei Erich und Trina zu lebensrettender Gewalt führen, werden den Lesern mit sparsamer Emotionalität nahegebracht. Die nach wie vor große Bedeutung der eigenen Sprache für das Heimatgefühl wird ebenso thematisiert wie das Überwinden von Grenzen in Europa. Die zwei im Roman dominanten Themen von Identität bzw. Entwurzelung und kommerzieller Ausbeutung der Natur zu Lasten von Mensch und Umwelt machen das Buch über den zeithistorischen Kontext hinaus äußerst lesenswert.

Kirsten Blanck für das Büchereiteam

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Personen: Balzano, Marco Pflug, Maja

Interessenkreis: Gemeindebriefrezensionen