'Vielleicht bin ich ja ein Wunder“ Vergegenwärtigte Vergangenheit in 16 Porträts von Reinhard Ehgartner "Die Vergangenheit ist niemals tot, sie ist nicht einmal vergangen." William Faulkner Die in Ägypten geborene und die Welt durchwandernde Paläontologin und der immer bei Bern lebende einstige Knecht. Der weibliche Stummfilmstar der 1920er-Jahre und der im Konzentrationslager inhaftierte ‚Zeuge Jehovas‘. Der Tiroler Lehrer und die Wiener Ordensschwester. Kaum vergleichbar scheinen diese sechzehn hier versammelten Lebensskizzen, und doch werden sie zusammengehalten durch eine mächtige Klammer: Allen Personen gemeinsam ist, dass sie ihr hundertstes Lebensjahr überschritten haben und damit gemeinsam durch ein Jahrhundert gegangen sind, das ihnen seinen Charakter in unterschiedlicher Form auf ihren Körper und in ihren Geist gelegt hat. Die Geburtsdaten der hier vorgestellten Personen liegen in den Jahren 1904, 1905. In ihren Klassenzimmern hingen noch Kaiserbilder und die sozialen und politischen Gegebenheiten ruhten auf den Normen und Gesetzen einer versunkenen Zeit; beginnen sie aus ihrem Leben zu erzählen, so ziehen sie Entwicklungslinien durch ganze Epochen. Die hier versammelten Gespräche mit 100-Jährigen, die Christine Haiden im Lauf der letzten beiden Jahre geführt und aufbereitet hat, verweisen auf Lebensgeschichten, die in Talkshows jederzeit auf ihren biografischen Sensationswert hin abgeklopft werden könnten. Dieses Haschen nach dem Effekt ist aber an keiner Stelle das Interesse der Herausgeberin. Christine Haiden interessiert sich nicht für Sensationen, sondern vielmehr für das Wunder Mensch. Im Vorwort bezieht sie Position: "Das Signum des Wunders ist die Einmaligkeit. Jeder Mensch trägt es." (S. 7) Die Menschen selbst zu Wort kommen lassen Die gewählte Darstellungsform ist die des Interviews. Die Menschenbilder entstehen also im dialogischen Austausch und in großer Unmittelbarkeit. Christine Haiden: "Biografische Darstellungen alter Menschen gibt es sehr viele. Publikationen, in denen sie selber zu Wort kommen sind dem gegenüber aber selten. Ich wollte die alten Menschen hier selbst zu Wort kommen lassen." Selbst zu Wort kommen bedeutet auch, dass die befragten Hundertjährigen weitgehend den Gesprächsverlauf und die Themen bestimmten. Es gibt in diesem Buch kein rhetorisches Vorführen, kein starres Frageschema und kein Festnageln oder Dramatisieren. Haiden zeigt eine Form der offenen, suchenden Gesprächsführung, in der ein menschliches Interesse spürbar ist und dem Gegenüber ein weiter Raum zur Darstellung des eigenen Lebens und Denkens geöffnet wird. Biografische und historische Wahrheiten Im Vordergrund steht nicht die Darstellung einer geschichtlichen, sondern die einer persönlich-biografischen Wahrheit. Haiden erzählt von ihrer Beobachtung, dass einzelne Erinnerungen bisweilen verschmelzen oder in neue Zusammenhänge rutschen, die einer objektiven Überprüfung nicht standhalten würden. Und dennoch erzählen diese sich verändernden Erinnerungen von einer biografischen Wahrheit, aus der das Selbstverständnis und das gewachsene Selbstbild der jeweiligen Person herausleuchten. Oder wie es Christine Haiden ausdrückt: 'Die Faktenlage wird zusehends subjektiv. Jeder ist ein Kosmos für sich.“ Menschenbegegnungen in schöner Ausgestaltung Ausgesprochen schön gestaltet und lesefreundlich layoutiert wird jedes Porträt mit einigen wenigen Sätzen eingeleitet: Unter welchen Umständen kam das Gespräch zu Stande, wo begegnet man der entsprechenden Person, mit wem hat man es im weiteren Verlauf des Gesprächs zu tun? Ganz wesentlich zur Atmosphäre des Buches tragen die Fotos von Petra Rainer bei. In ihren Bildern begegnet sie dem Leben der Hundertjährigen auf verschiedenen Ebenen: Detailaufnahmen von Gesichtern, Händen, Füßen führen uns nahe an die Personen heran, dazwischen werden Gegenstände aus dem Lebensumfeld der Porträtierten gesetzt - eine Tasse, ein Foto, ein gedeckter Tisch, Haarnadeln. Den Hintergrund lässt Petra Rainer in den weich getönten Bildern in Unschärfe zurücksinken, was mit der Thematik sich diffus verwandelnder Erinnerung korrespondiert. Eine Atmosphäre stiller Konzentration geht aus diesen Fotos hervor. Beim Betrachten verlangsamt sich die Zeit, Gegenwart und Vergangenheit verschwimmen ineinander. Glückliche Zeiten und Schicksalsschläge In den Interviews, die meist einen Umfang von fünf bis zehn Textseiten ausmachen, klingt das Idiom der Gesprächspartner, ihre Eigenart des Sprechens noch durch und auch die Individualität des Denkens und des Zugangs zur Welt sind spürbar. Und gehen die Lebensläufe doch in sehr unterschiedliche Richtungen, so finden sich eine Reihe von Motiven, die öfter wiederkehren: die Erinnerungen an die Entbehrungen und den Hunger in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg; der Ausdruck von Lebenskraft und Lebensfreude auch neben extremen Schicksalsschlägen; der Ausdruck von Zufriedenheit und Dankbarkeit; und natürlich Überlegungen zum Thema Vergänglichkeit und Zeit. Von den letzten Dingen Diese Themen von Vergänglichkeit und von den Vorstellungen zu einem Weiterleben nach dem Tod werden von Christine Haiden gegen Ende der Gespräche eingebracht und von ihren GesprächspartnerInnen zumeist sehr offen aufgegriffen. Die Ansichten, Vorstellungen und Hoffnungen gehen dabei sehr weit auseinander. Die Reaktionen reichen von tiefer Gläubigkeit über vages Hoffen bis zu lächelndem Abwinken jeglicher Jenseitsvorstellung. Grundsätzlich ist bei den Gesprächen eine große Form von Offenheit und unverschnörkelter Direktheit spürbar. Christine Haiden: "Vor allem wenn keine weiteren Angehörigen bei den Gesprächen dabei sind, ergeben sich sehr offene Gespräche. Mit den Angehörigen sind die jeweiligen Personen in eigene Lebensgeschichten verstrickt - da sind dann bisweilen Formen der Rücksichtnahme und des Ausweichens spürbar." Zusammengefügt ergeben diese sechzehn Porträts eine Art Spiegel, in dem man hinter den Lebensgeschichten die großen politischen, sozialen und ökonomischen Umwälzungen eines Jahrhunderts mitlesen kann. Der Blick nach vorne Obwohl die Gespräche weit zurück in die Erinnerung führen, haben die porträtierten 100-Jährigen den Blick zumeist klar in die Zukunft gerichtet - ablesbar etwa an Aussagen wie der folgenden von Warda Bleser-Bircher: "Ich bin erst am Lernen mit dem Computer. Es geht schon ein bisschen, aber ich mache noch dumme Fehler." (S. 12) Bei der Begegnung mit soviel Lebendigkeit kann sich unweigerlich auch der Blick auf das eigene Leben verändern, und möglicherweise regt sich bei der Lektüre ein leiser, schöner Verdacht: Vielleicht sind wir ja alle Wunder!
Personen: Haiden, Christine Rainer, Petra (Ill.)
Standort: Bibliothek
BA
Hai
Haiden, Christine:
Vielleicht bin ich ja ein Wunder : Gespräche mit 100-Jährigen / Christine Haiden. [Fotografien]: Petra Rainer . - Salzburg : Residenz-Verl., 2006. - 157 S. : Ill.
ISBN 978-3-7017-3023-0 fest geb. : ca. Eur 29,90
Allgemeine Sammelbiographien - Sachbuch