Vertlib, Vladimir
Zwischenstationen Roman
Buch Dichtung

Die große Wanderung / Vladimir Vertlibs Roman "Zwischenstationen" Der 1966 in Rußland geborene Vladimir Vertlib hat als österreichischer Autor 1995 mit der Erzählung »Abschiebung« debütiert, deren allererste Vorstudien übrigens in »Literatur und Kritik« veröffentlicht wurden. In seinem Erstling erzählte Vertlib von den letzten traumatischen Wochen, die eine russische Familie in den USA verbringt, aufgerieben im Kampf gegen eine Bürokratie, die die Lebenspläne der Immigranten zunichte macht, ausgeliefert einer amerikanischen Realität, an der der Traum von Freiheit und Menschenwürde zuschanden geht. Wovon Vertlib in seiner zügig vorangetriebenen Erzählung berichtete, von den Erfahrungen der Emigranten, die nicht hier, nicht dort zuhause sind, das breitet er nun in einem weitgespannten Roman aus, der in St. Petersburg und in Wien, in Amsterdam und Brighton Beach (dem osteuropäischen Viertel von Brooklyn), im römischen Hafen Ostia und in der israelischen Wüste spielt, auf internationalen Flughäfen und in Meldeämtern, Konsulaten, Polizeistationen… Ich gestehe, daß mich dieses große belebte Bildnis der Emigration überrascht hat, denn ich hatte Vladimir Vertlib zwar vieles zugetraut, aber nicht, daß er es bereits jetzt zuwegebringt, von Heimatlosigkeit, Verstoßung, Illegalität, von diesen ureigenen Bedrängnissen seiner Kindheit mit solch souveräner Ironie zu erzählen. Vertlib weiß jedoch gerade dadurch zu bewegen, daß er in der Düsternis Witz und Daseinslust aufleuchten läßt, seine Erzählung frei von moralisierendem Kommentar hält und das Geschehen immer wieder in ironische Distanz rückt. Der Ich-Erzähler ist fünf, als er sich fragen muß, warum all die Verwandten auf dem Leningrader Bahnhof so tränenreich von ihm Abschied nehmen. Erst im Zug erfährt das Kind, daß es mit den Eltern in ein fernes Land übersiedelt, das Israel heißt. Der Vater, ein jüdischer Akademiker, hatte mehrfach gegen den Antisemitismus in seiner Heimat protestiert, und damals, 1971, »stand die Existenz der Sowjetunion noch für mindestens zweihundert Jahre fest«. Mit dieser ersten Ausreise beginnt eine Odyssee, die das Kind in unzählige Städte, über drei Kontinente und durch die seelischen Abgründe seines Vaters führt. Starrsinnig, unbeugsam und um das materielle Wohlergehen seiner Familie gänzlich unbesorgt, ist der Vater eine geradezu mythische Gestalt. Die Härte des zumeist arbeitslosen Patriarchen wird nur durch die Kauzigkeit gebrochen, mit der er seinen heroischen wie lächerlichen Kampf gegen die Unzulänglichkeiten der Realität führt. Die Familie ist im gelobten Land noch gar nicht recht angekommen, schon will der Vater die Zelte dort wieder abbrechen. Sein Leben lang hat er von Israel geträumt, jetzt genügt ihm ein kurzer Lokalaugenschein: das ist nicht das Land, das er suchte. Überall, im Wohnungsamt und bei der Einwanderungsbehörde, sieht er nur »Abschaum« am Werk, und so macht er sich die Auffassung einer anderen unglücklichen Emigrantin zu eigen: »Zuviele Juden auf einem Fleck. Für mich sind die Juden das Salz der Erde. Salz allein ist ungenießbar.« Nach ein paar Monaten in Israel, gerade als die ersten Worte gelernt und ein paar Freunde gewonnen sind, findet sich das Kind daher im Flugzeug wieder, in dem ihm erklärt wird, daß die Reise nach Wien geht, wo man aber nur kurz bleiben werde, denn der Vater »möchte in einem Land leben, wo mein Sohn kein Fremder ist. In Österreich bleibt er immer der Jud. Und in Israel muß er den ganzen Saustall, der in diesem Land herrscht, auch noch mit der Waffe in der Hand verteidigen.« Wohin sie auch ziehen, es endet immer gleich: Dort, wo es dem Vater gefallen würde, dürfen sie nicht bleiben, und dort, wo sie bleiben dürften, gefällt es ihm nicht. So kommt die dreiköpfige Familie nach Amsterdam, nach Rom, ein zweites Mal nach Israel, nach Ostia, nach New York und Boston und dazwischen stets zurück ins ungeliebte Österreich: »Wie die Flugbahn eines Bumerangs hatten uns alle Wege immer wieder nach Wien und in diesen etwas heruntergekommenen Arbeiterbezirk geführt.« Darüber vergeht mehr als ein Jahrzehnt, und in zwölf Kapiteln, die jeweils einen Ort der Wanderung mit den spezifischen Jugenderfahrungen, die er zuließ, im Zentrum haben, besinnt sich der Ich-Erzähler dieser Zeit der Aufbrüche und Enttäuschungen. In jedem Land muß er etwas zurücklassen, einen Freund, auf den er bauen kann, eine Sprache, in der er gerade die ersten Schimpfworte gelernt hat, und in jedem Land gewinnt er die verstörende Einsicht, daß der Augenschein trügt: In Italien sind die einfachen Menschen zu den unbehausten »ebrei russi« hilfsbereit und nachsichtig, aber auf dem Amt wartet eine Bestie auf sie. In Wien hingegen sind die Leute im allgemeinen unfreundlich, aber im einzelnen gemütlich, und die sich dort des Sohnes jüdischer Emigranten liebevoll annimmt, ist ausgerechnet eine alte Frau, die in ihrem Zimmer ehrfürchtig ein paar Devotionalien der Nazis hütet. Während der Vater am einen Tag mit der ganzen Welt hadert und am nächsten schon voller Begeisterung von Norwegen, Dänemark und anderen Ländern spricht, in denen man »gut zu den Juden ist«, hat alle Last die Mutter zu tragen. Eine promovierte Physikerin, verdingt sie sich als Putzfrau und ist doch bereit, es gleichwo auf der Welt gar nicht so arg zu finden. Und wenn ihr Mann wieder seinen moralischen Anfall bekommt und darüber lamentiert, daß es ihm, nur ihm zeitlebens um höhere Werte als Reichtum gegangen ist, dann wird von ihr gesagt: »Mutter lächelte und schwieg.« Joseph Roth hat von solchen Eheleuten in den ostjüdischen Schtetln erzählt, von Männern, die sich als Bibelgelehrte oder »Idealisten« verstanden, und starken, unermüdlich rackernden Frauen, die ihnen geduldig, wenn nicht stolz die Möglichkeit gaben, sich rücksichtslos um nichts als ihre hohen, mitunter hohlen Ideale zu kümmern. Zwischen diese beiden Portalfiguren des Lebens ist der Erzähler gestellt, der seine Pubertät gewissermaßen unterwegs erlebt und dessen Geschichte sich schließlich fast zu einem Entwicklungsroman formt. Bis auf das mißglückte Schlußkapitel ist es Vertlib glänzend gelungen, eine schwierige Jugend in leichter Prosa aufzuheben und geradezu heiter und gelassen von Wagemut, Aberwitz und Bitternis seiner Lebenswanderschaft zu erzählen. "LuK" Karl-Markus Gauß


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Personen: Vertlib, Vladimir Gauß, Karl-Markus

Schlagwörter: Emigration Heimatlosigkeit

Vertlib, Vladimir:
Zwischenstationen : Roman / Vladimir Vertlib. - München : Deutsch. Taschenb. Verl., 1999. - 293 S.
ISBN 978-3-423-13341-8 kart. : € 11,90

Zugangsnummer: 0006999001 - Barcode: 0000065436
Belletristik für Erwachsene - Signatur: DR VERT - Buch Dichtung