Nicht ganz eine Autobiografie, aber völlig vereinnahmend durch die wechselnden Aspekte und dichte Durchdringung der seelischen und familiären Situation eines Knaben in den 1950er Jahren ist Edgar Selges Buch ein fesselnd erschütternder Bericht aus dem Nachkriegsdeutschland und legt zugleich die Anatomie der Entwicklung zu einem der erfolgreichsten Schauspieler offen. Offenheit, vor allem sich selbst gegenüber, ist das herausstechende Merkmal dieser Lebensbeschreibung. Als Kind von Flüchtlingen, der Vater ein zu Prügeln neigender musikalisch begabter Gefängnisdirektor, 1948 in Ostwestfalen geboren, erlebt er mit seinen Brüdern jene diese Epoche bezeichnende Konstellation aus Verdrängung, gewalttätiger Disziplinierung und dem Spagat aus Schöngeistigkeit und alltäglicher Grausamkeit. Die Schatten der Nazi-Vergangenheit geben dem Bild dieser Kindheit ebenso Kontur wie die eigenen Sehnsüchte und Nöte des jungen Edgar. Selbst noch in Schilderungen sexuellen Missbrauchs durch den Vater sind die Verbundenheit und Bewunderung, das bürgerliche Milieu und kindliche Verzweiflung spürbar, der allein durch Verstellung und Schauspielerei zu begegnen ist. Mit dem Wechsel aus erzählenden Kapiteln, Reflexionen, Träumen und fiktiven, kurzen Gesprächen versteht es Selge, die Leser/-innen in den Bann zu ziehen und wie ein Schauspieler die Wahrheit schonungslos durch das Darstellen unterschiedlicher Situationen und Stimmungsebenen zu offenbaren. Edgar Selge sei Dank für diese Offenbarung und die Leser/-innen aus allen Büchereien erwartet eine für Schauspieler-Autobiografien gar nicht gewöhnliche, umso packendere Lektüre, die viel über unsere deutsche Geschichte und Mentalität erzählt. Herzliche Empfehlung.
Helmut Krebs
Personen: Selge, Edgar
Selge, Edgar:
Hast du uns endlich gefunden : Roman / Edgar Selge. - 5. Aufl. - Reinbek bei Hamburg : Rowohlt Verl., 2022. - 301 S.
ISBN 978-3-498-00122-3 fest geb., : EUR 24,00
Schöne Literatur - Signatur: Selge - Buch