Berührende, weise und großartig formulierte Erinnerungen einer 80-jährigen Dichterin. (BO) Helga Schubert hat 2020 im Alter von 80 Jahren den Bachmannpreis gewonnen. Der Siegertext "Vom Aufstehen" ist Teil dieses aufwühlenden und stilistisch ausgezeichneten Buches, das in 29 abgeschlossenen Kurztexten das Augenmerk auf jeweils einen Abschnitt oder Aspekt ihres Lebens richtet. Aus der Zusammenschau ergibt sich das Bild einer außergewöhnlichen Frauenbiographie: Kriegskind, Flüchtlingskind, Kind der deutschen Teilung. Der Vater ist mit 28 Jahren im Dezember 1941 gefallen, die Mutter lässt das Kind bei seinen unverheirateten Tanten und arbeitet als Rotkreuzschwester. Am Kriegsende flüchtet sie mit der Fünfjährigen vor den heranrückenden Russen unter entsetzlichen Umständen nach Westen. Das Verhältnis zwischen Tochter und Mutter bleibt zeitlebens schwierig - zu unterschiedlich sind ihre Charaktere und Überzeugungen. Als die Sechsjährige ihrer Mutter zum Geburtstag eine selbstgebastelte Kette aus weißen Bohnen schenkt, weist diese sie kalt zurück, "vielleicht von der Armseligkeit angeekelt." Erst kurz vor dem Tod der Mutter mit 101 Jahren entstehen Nähe und ein Verständnis. Das zweite zentrale Thema neben der Mutter-Tochter-Beziehung ist die Identität einer Schriftstellerin, die nicht die Punze "DDR-Literatin" tragen möchte. Bereits 1980 nominiert, erhält Helga Schubert keine Ausreisegenehmigung, um an der Bachmann - Lesung teilnehmen zu können. Der "Moloch der Diktatur" vergiftet das Leben. Sie ist bereits 50 Jahre alt, als sie erstmals an freien Wahlen teilnehmen darf. Anhand dieser feinfühligen Bausteine zeigt sich das Bild eines mit Freud und Leid erfüllten Frauenlebens: bedrückte Tochter, liebende Mutter und Ehefrau, selbst Hilfe suchende Psychotherapeutin, Schriftstellerin. Darüber hinaus werden die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche der letzten acht Jahrzehnte in Deutschland genau ausgeleuchtet. Besondere Leseempfehlung!
Personen: Schubert, Helga
Schubert, Helga:
Vom Aufstehen : ein Leben in Geschichten / Helga Schubert. - München : dtv, 2021. - 221 S.
ISBN 978-3-423-28278-9 fest geb. : EUR 22,00
Schöne Literatur - Signatur: Schub - Buch