In die Welt mancher Texte möchte man eintauchen können: Ein entspannter Nachmittag im Tausendmorgenwald oder ein Besuch in Hogwarts - wenn Voldemort nicht gerade vor den Toren lauert - wäre sicherlich fein. Aber nach Panem, dem Land in Suzanne Collins' noch unvollendeter Trilogie "Die Tribute von Panem", sollte man eher nicht reisen: Ein "Tribut" zu sein bedeutet nämlich, bei den jährlichen "Hungerspielen" per Los dazu ausgewählt zu sein, sich mit 23 anderen in einer Arena vor laufenden Kameras zu bekämpfen - bis nur noch der Sieger am Leben ist. Basis der Handlung bildet eine innovative Fusion von römischem Gladiatorenkampf und griechischem Minotaurus-Mythos: König Minos forderte bekanntlich nach einem gewonnenen Krieg gegen Athen regelmäßig junge Menschen von der Stadt, die dann als Opfer ins Labyrinth des Minotaurus gebracht wurden. Auf die Inspirationsquellen der Erzählung wird immer wieder subtil Aufmerksamkeit gelenkt, indem die Menschen im Kapitol Namen aus der römischen Geschichte tragen (etwa Cicero oder Caesar) und Begriffe mit lateinischem Ursprung in die Terminologie des Textes übernommen wurden. Aber nicht nur antike Referenzen werden angezapft: Alt wird auf spannende und gleichzeitig Denkanstoß bietende Art mit Neu kombiniert. Denn die Spiele sind nach dem Vorbild von Sportereignissen und Reality-TV aufgebaut: landesweit übertragene Medienspektakel, die das Publikum im Kapitol unterhalten und die Menschen in den Distrikten mit der Botschaft "Wir holen uns eure Kinder und ihr könnt nichts dagegen tun" an die Macht der Regierung erinnern sollen. Dazu gehören Interviews, Modeschauen und Reichtum für den einzigen Überlebenden der Show. Im Glanz und Glamour lässt sich sowohl als LeserIn als auch als Tribut phasenweise allzu leicht vergessen, dass es hier ums nackte Überleben geht. Aber RezipientInnen werden regelmäßig unsanft auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Denn sie begleiten die 16-jährige Ich-Erzählerin Katniss, die über mehrere hundert Seiten jederzeit damit rechnet, in der Arena getötet zu werden. Dieses Konzept legt eine gewisse Erwartung von Gewaltszenen nahe. Dementsprechend überrascht positiv, dass blutrünstiger Detailrealismus weitgehend ausgespart bleibt. Die Figuren bringen einander zwar recht brutal um, aber Collins lenkt die Aufmerksamkeit dabei weniger auf klaffende Wunden und zermalmte Körper als auf Emotionen und die scheinbar ausweglose Tragik der Situation. Denn an den begeisterten Zuschauern des Kapitols geht völlig vorbei, dass jedes Jahr 24 junge Menschen und ihre Familien zugrunde gerichtet werden: Die Grenze zwischen Realität und Fiktion ist verloren gegangen. Neben den damit einhergehenden Reflexionen zum Thema Medienkompetenz - die im Text sehr präsent sind - wird auch Mitläufer-Verhalten reflektiv aufgegriffen. Denn nur weil es Tribute gibt, die freiwillig mitmachen, ist dafür gesorgt, dass es tatsächlich ein Gemetzel zu sehen gibt. Überlegungen zu diesen beiden Themen werden durch die Gedanken und Gefühle der Protagonistin griffig vermittelt. Aber auch Spannung kommt nicht zu kurz und eine Liebesgeschichte darf ebenfalls nicht fehlen. Auch dabei demonstriert die Autorin großes Geschick als Erzählerin: Ihre Protagonistin sieht in ihren beiden Werbern, Peeta und Gale, Partner. Sie bleibt aber glaubwürdig unentschlossen, mit wem sie - oder ob sie überhaupt - eine Beziehung eingehen will. Der Dreiecksbeziehung wird ihre Würze u. a. dadurch verliehen, dass Katniss vor den Kameras ihre Liebe zu Peeta spielt, um die Sympathien des Publikums zu gewinnen und so eine Basis für das Überleben beider zu schaffen. Zum Abschluss noch ein Blick in die Kristallkugel: Am Original-Cover des Abschlussbandes ist ein fliegender Spotttölpel (ein fiktiver Vogel, der für Katniss und die sich anbahnende Revolution der Distrikte gegen das Kapitol steht) vor himmelblauem Hintergrund zu sehen. Mit etwas Optimismus lässt sich daraus die Hoffnung ableiten, dass Katniss mit Peeta oder Gale in den Sonnenuntergang reiten darf und dass die Vorherrschaft des Kapitols ein Ende findet. Aber wie Suzanne Collins die Trilogie um die Tribute von Panem auch abschließt, sie hat mit Tödliche Spiele und Gefährliche Liebe - im doppelten Sinn - bereits phantastische Texte vorgelegt. *ag* Sonja Loidl Zuerst war ich im letzten Herbst nach der Lektüre von Kai Meyers Fantasy-Mafia-Roman "Arkadien erwacht" verärgert. Diese wilde Mischung aus Motiven unterschiedlicher Genres, verpackt in eine haarsträubende Geschichte über zwei Mafiosi in Sizilien, zusammengeleimt mit jeder Menge Romantik, Leidenschaft und Gewalt, erhielt nicht nur, wie zu erwarten war, auf diversen LeserInnenforen durchgehend Zuspruch, sondern wurde auch in der Fachpresse gelobt ("Vielversprechender Auftakt zu einer neuen Trilogie eines der besten deutschen Erzählers des fantastischen Genres", Bulletin Jugend & Literatur). Vor dem Hintergrund, dass etwa der neapolitanische Autor Roberto Saviano seit der Veröffentlichung seines dokumentarischen Romans "Gomorra" (2006) auf der Flucht vor der Mafia im Untergrund in ständiger Todesangst leben muss, scheint es mir zynisch zu sein, einen Roman zu publizieren, in dem zwei strahlend schöne und actiontaugliche jugendliche Mafiosi zu romantischen HeldInnen einer uralten mächtigen Spezies hochstilisiert werden. Schon klar, das ist Unterhaltungsliteratur, aber gibt es nicht auch für sie - sogar wenn sie als Fantasy auftritt - Grenzen (des guten Geschmacks, des Zumutbaren, des moralisch Akzeptablen)? Unbehaglich zumute war mir dann auch während und nach der Lektüre von Suzanne Collins erstem Teil der Trilogie "Die Tribute von Panem", einem internationalen Beststeller, der mittlerweile auch in Deutschland in hoher Auflage verkauft und auch (mit einer Nominierung zum Deutschen Jugendbuchpreis seitens der Jugendjury und dem Buxtehuder Bullen) ausgezeichnet wurde. "Gefährliche Liebe" ist einerseits eine klassische Anti-Utopie: Im totalitärem Panem herrscht ein hochtechnologisiertes Zetnrum (das Kapitol) über 12 nach einem Aufstand unterworfene und jetzt streng überwachte, verarmte und ausgebeutete Distrikte. Jährlich stattfindende "Hungerspiele" sind Mahnmal und Symbol der Herrschaft, werden aber zugleich als Unterhaltung für die Beherrschten medial inszeniert: 24 junge Menschen, zwei aus jedem Distrikt, müssen sich in einer künstlichen, mit Kameras bestückten Arena gegenseitig ermorden. Der oder dem Überlebenden wird ein sorgloses Leben im Überfluss versprochen. Diese Inszenierung ist eine Mischung aus Reality-TV, wie wir es seit Ende der 1990er Jahre kennen (etwa "Big Brother") und Videospielen. Die eine Form befriedigt den Voyeurismus der Zuseher in Panem und der Lesenden. Die andere versetzt die Lesenden in die Rolle eines Ego-Shooters. Aus der Perspektive der Heldin - sie ist ein Mix aus Beatrix Kiddo aus "Kill Bill", einer Amazone und einem naiven kleinen Mädchen - erleben wir die Jagd, das Jagen und Gejagtwerden, das Töten und die Angst vor dem Getötetwerden. Die Autorin inszeniert ihren Roman außerordentlich gekonnt: Sie ist bei grundsätzlicher Berechenbarkeit originell, zeigt und beschreibt brutale Gewalt, löst aber die daraus entstehende (An-)Spannung immer wieder mit rührenden oder romantischen Szenen und Erinnerungen, sie lässt fast alle Figuren ohne Skrupel über die Klinge springen, ihre beiden Hauptfiguren aber nur aus begründetem Hass, Mitleid oder unabsichtlich töten und also weitgehend "unschuldig" bleiben. Und sie beherrscht das Timing. Das macht "Tödliche Spiele" so überaus spannend. (der 2. Teil ist deutlich schwächer). Dass die Spannung nicht durch Reflexion unterbrochen wird, dafür sorgt die Autorin allerdings auch: Es gibt keine Metaebene im Text, keine ernstzunehmende Reflexion über das Beobachten und das Beobachtetwerden. Die Heldin reflektiert selten (und nur wenn es für den Spielverlauf nötig ist), dass sie ständig im Blick der Kameras und Zuseher steht. Und da ihre Perspektive die einzige ist, die den LeserInnen geboten wird, müssen die sich der Problematik der medial inszenierten Realität innerhalb der erzählten Realität nicht stellen, können ungestört zwischen tödlicher Jagd und Romanze, Rührung und Angstlust schwelgen. Das verursacht mein Unbehagen: Dass Literatur unmenschliche Erzählungen dummer Fernsehformate und brutaler Videospiele samt ihrer Erzählstruktur, die auf Grund ihres Erfolgs - oder weil man sich halt daran gewöhnt hat, dass es so etwas gibt - mittlerweile auch kaum mehr hinterfragt werden, einfach übernimmt. Dass solche Bücher in wichtigen und traditionsreichen Verlagen erscheinen, mit Preisen ausgezeichnet und in Foren bejubelt werden, in der Fachpresse unhinterfragt bleiben und im literarischen Diskurs des Feuilletons keine Rolle spielen. Dass es also keine Auseinandersetzung über diese Bücher gibt, jenseits des Marketings, des Staunens über den Erfolg, der Freude darüber, dass immer noch oder wieder so viel gelesen wird. Dass die Frage, wer in der natürlich schon geplanten Verfilmung von "Die Tribute von Panem" die weibliche Hauptrolle spielen kann, soll, muss, die wichtigste zu sein scheint. Na dann: Gute Unterhaltung. *Franz Lettner"
Personen: Collins, Suzanne
J Coll
Collins, Suzanne:
¬Die¬ Tribute von Panem, Bd. 1 : tödliche Spiele / Suzanne Collins. Dt. von Sylke Hachmeister und Peter Klöss. - Hamburg : Oetinger, 2009. - 414 S. - [Aus dem Amerikan. übers.]
ISBN 978-3-7891-3218-6 fest geb. : ca. € 18,40
Jugendbücher (bis 12 Jahre) - Buch