"Besitz ist lediglich ein Konzept, das eine Problemlösung für die Situation des Mangels darstellt... Wenn an etwas Mangel herrscht - oder herrschen könnte, auch das reicht schon an Begründung -, dann sichert man sich Besitz daran, um nicht selber von dem Mangel betroffen zu sein. Doch wenn kein Mangel herrscht und es auch nicht vorstellbar ist, dass jemals Mangel herrschen wird, dann wird es sinnlos, es besitzen zu wollen." Ich habe den Roman an einem Samstagnachmittag zu lesen begonnen. Um kurz nach 3 Uhr nachts legte ich ihn aus der Hand, zutiefst fasziniert, aufgewühlt, einigermaßen erschüttert über die zwingende Logik des Geschehens, das ich bis heute nicht recht anzusiedeln weiß zwischen Realität und Fantasie, zwischen Science Fiction und echter Wissenschaft - und ich bin auch nicht sicher, dass ich es wirklich wissen möchte. Die Faszination des Buches liegt im Wahrscheinlichen des Unglaublichen oder vielleicht auch im Unglaublichen des Wahrscheinlichen, beides erfüllt den Leser mit Aufregung und Begeisterung, mit Entsetzen und Fassungslosigkeit, mit Betroffenheit und Bestürzung. Dazu ließe sich nun viel schreiben - und doch packt mich eine gewisse Ratlosigkeit, wie ich die Faszination vermitteln soll, denn jedes beschreibende Wort führt den Leser auf den richtigen Weg, der sich im Roman aber erst ganz spät erschließt und die Spannung von Seite zu Seite unglaublich antreibt. Ich glaube nicht, dass ich den Roman ein zweites Mal lesen werde, man braucht die naive Unvoreingenommenheit, das Nicht-Wissen, worauf alles hinauslaufen wird, mit dem man sich dem Geschehen nähert und das sich so quälend langsam erschließt, dass man wie im Fieber einfach immer weiter und weiter lesen muss. Herr aller Dinge ist kein Kinderbuch, auch nur bedingt ein Jugendbuch; es ist in Teilen schwierig, den komplizierten Gedankengängen in die wissenschaftlichen Bereiche zu folgen, vieles kann man als Laie ohnehin nicht verstehen, aber das macht die Handlung vielleicht sogar noch einen Deut spannender. Was man nicht versteht ist, wirkt oftmals mysteriös, mythisch, lässt Raum für eigene Fantasie, die schrecklicher sein kann als das, was sich in Wirklichkeit dahinter verbirgt. Die Zuordnung zum Erwachsenenbuch liegt aber auch in detaillierten, heftigen Sexszenen, die man dennoch nie als anstößig empfindet, dienen sie doch der Erhellung des jeweiligen Menschen, offenbaren von seinem Charakter mehr als jede Beschreibung es könnte. Es ist eine lange Zeit, über die der Roman sich erstreckt, genau ist es nicht festlegbar, aber es mögen wohl an die 30 Jahre sein. Er beginnt mit der Begegnung zweiter Kinder in Tokyo: Charlotte, etwa achtjährige Tochter des französischen Botschafters, und Hiroshi, Sohn einer Hausangestellten in der Botschaft, beide in etwa gleichalt. Zwischen ihnen steht spürbar der soziale Unterschied, den die Erwachsenen deutlich empfinden - ganz im Gegensatz zu den Kindern. Nein, das stimmt nicht. Auch Hiroshi ist sich der Unterschiede sehr bewusst, denn sonst wurde das Geschehen gar nicht in Gang kommen, aber er leidet nicht darunter. Vielmehr beginnt er zu grübeln, wenn die beiden Kinder sich im Garten des Botschafters zur tiefen Missbilligung der Erwachsenen auf beiden Seiten begegnen und mit der Schaukel höher und höher in den Himmel fliegen. Hier hat Hiroshi die Idee, die sein Leben bis zum Schluss bestimmen wird: die Idee, wie man Armut aus der Welt schaffen könnte. Unverhofft werden die Kinder ohne Abschied durch den Umzug des Botschafters getrennt. Jahre vergehen. Hiroshis vermisster Vater, ein Amerikaner, taucht auf und nimmt den Sohn mit in die USA, wo er auf die Highschool gehen soll, der Chancen wegen. Und hier steht er eines Tages auf einer Party Charlotte gegenüber. Charlotte, der schönsten aller Frauen, immer noch, reich - und verlobt mit dem tollen reichen Erben eines Imperiums, einem wahren "Taugenichts", dessen Hobby darin besteht, Frauen reihenweise flachzulegen. Die Begegnung wühlt beide auf, sie machen genau da weiter, wo sie aufgehört haben als Kinder. Wie auch bei späteren Begegnungen, zwischen denen immer Jahre liegen, sind Charlotte und Hiroshi einander vertraut und schicksalhaft verbunden, wissen, dass sie für einander bestimmt sind, ohne dass sie wirklich zusammenkommen können. Hiroshi will Charlottes Liebe gewinnen, und das - er ist sich sicher - wird ihm nur gelingen, wenn er die große Idee seiner Kindheit umsetzt. Da ahnt er noch nicht, dass er eines fernen Tages die Welt verändern und ihr neues Bild prägen wird und fast zu ihren Untergang beiträgt. Die Geschichte läuft linear aus der Sicht unterschiedlicher Protagonisten, wobei alle Ereignisse deutlich auf Charlotte und Hiroshi fokussieren. Ihre Leben verlaufen parallel und doch entgegengesetzt: Während Charlotte als Anthropologin sich eher dem mythisch-mystischen Denken hingibt und versucht, der Entwicklungsgeschichte der Menschheit auf die Spur zu kommen, in der verborgenen Hoffnung, das Tor zu einer anderen Welt öffnen zu können, um zu erfahren, was nach dem Tod geschieht, ist Hiroshi der kühle Rechner, für den nur naturwissenschaftliche Fakten zählen, dessen Welt aus Atomen und Molekülen und ihren Strukturen besteht, die er zu erkennen glaubt. Während Charlotte Schritt für Schritt in der Evolutionsgeschichte zurückgeht, das von Menschenhand Geschaffene sucht und körperlich erfahrbar machen will, sieht Hiroshi in der Welt nur Atome im synthetischen Zusammenspiel, elementare Welten in einer "brachialen Wirklichkeit", ohne die jahrtausendelange Konvention dahinter. Jahrzehnte später treffen beide Kulturen und Welten auf der Teufelsinsel, die ihren Namen zu Recht trägt, zusammen. Ein teuflisches Geschehen nimmt seinen Lauf, das sich zum Weltuntergang entwickeln wird, wenn es nicht gestoppt werden kann. Und Hiroshi erkennt, worauf er sich eingelassen hat, kommt einem uralten Geheimnis auf die Spur, einer untergegangenen hoch entwickelten Zivilisation, die sich des schrecklichsten Verbrechens an der Welt schuldig gemacht hat... Es ist ein berauschender Roman, der den Fortschritt der Menschheit triumphierend vor Augen führt; ein bedrückender Roman, der offenbart, dass die Menschheit mit diesem Fortschritt nicht umgehen kann und zum Untergang von Kulturen wissentlich beiträgt; ein angstmachender Roman, der erahnen lässt, wie vielleicht nicht unsere Zukunft, aber die unserer Kinder und Enkel aussehen mag; ein philosophischer Roman, der auf jeder Seite ethisch-moralische Denkanstöße und Einsichten vermittelt, die fast zu groß sind, als dass man sich mit ihnen auseinandersetzen kann. Herr aller Dinge zeigt die Bedrohung der Erde und Menschheit durch eine außer Kontrolle geratene Technologie, die nicht mehr beherrschbar ist - und dagegen erscheinen live miterlebte Katastrophen wie die von Fukushima eher harmlos. Eschbach findet ein "versöhnliches" Ende, indem er Hiroshi ein Opfer, ein Selbstopfer bringen lässt. "Ich bin der Herr aller Dinge geworden", sagte er leise. "Ich dachte immer, damit eine wunderbare Zukunft schaffen zu können, aber ich habe mich geirrt. Es ist zu viel Wissen und zu viel Macht, als dass ich in dieser Welt sein könnte." In der erzählten Geschichte wird der Konflikt, der auch zugleich eine wunderbar ungewöhnliche Liebesgeschichte ist, für die Handelnden subjektiv "gelöst". Für uns als Rezipienten bleibt er über das Handlungsende hinaus bestehen - und es bleibt die erschreckende Einsicht, dass einzelne Lösungen nicht das Fortdauern des Konfliktes in der Realität bedeuten. *Alliteratus* Astrid van Nahl
Medium erhältlich in:
20 KÖB Heusweiler,
Heusweiler
7 KÖB Maria Himmelfahrt,
Bleialf
51 KÖB St. Peter und Paul,
Speicher
60 KöB St. Maria Magdalena,
Weiler bei Bingen
Personen: Eschbach, Andreas
Eschb
Eschbach, Andreas:
Herr aller Dinge : Roman / Andreas Eschbach. - Köln : Bastei Lübbe, 2011. - 687 S.
ISBN 978-3-7857-2429-3 fest geb. : ca. Eur 22,70
Buch