Angelika ist „Anders als wir“, denn sie ist die Nichte von Virginia Woolf und Tochter einer anerkannten Malerin. Zusammen mit ihren zwei Brüdern Quentin und Julian wächst sie im Kreis der wegen ihrer Bedeutung für die kulturelle Modernisierung Englands berühmten Bloomsbury Group in den 1930er Jahren zwischen Künstlern, Intellektuellen und Wissenschaftlern auf, denen traditionelle Normen und Geschlechterverhältnisse nichts gelten. Und wie lebt es sich als Kind in der exklusiven Welt von Künstlern? Ein kunterbuntes Haus, ein großer, unordentlicher Garten und alles andere als Helicopter-Eltern – manche Kinder mögen sich dieses Leben reizvoll vorstellen. Aber durch Angelikas Augen betrachtet erfahren wir, dass es traurig ist: Sie wird von ihrer Mutter Vanessa nicht in den Arm genommen, erfährt nebenbei, dass ihr Vater nicht ihr Vater ist, und darf zunächst keine Schule besuchen, was ihr reizvoll erscheint. Trost findet sie vor allem in ihrer Tante, der Schwester ihrer Mutter, ihrer Hexenfreundin, ihrer Vertrauten, doch: „Virginia war verschwunden, Virginia Woolf, meine Tante, die Schriftstellerin, meine Lehrmeisterin, unsere Freundin. Sie war weg.“ Dieser Satz bildet den Auftakt für diesen Roman, der sich durch ein besonderes Erzählsetting auszeichnet: Während die Flammen des Zweiten Weltkriegs im Jahr 1941 noch jenseits von England aufleuchten und nach Virginia gesucht wird, bittet Angelica ihren Bruder Quentin, ihm ihre Erinnerungen an ihre Erlebnisse mit Virgina erzählen bzw. diktieren zu dürfen. So verschmelzen zwei intradiegetische Erzähler in einem Schreibexperiment, um die Zeit des Wartens bis zur Gewissheit über Virginias Selbstmord zu überbrücken und zugleich neue Einsichten über die z.T. unterschiedlichen Eindrücke und Erinnerungen an ihre Kindheit zu gewinnen. Im Vordergrund steht dabei Angelicas kritische Erörterung der liberalen Erziehung, daneben aber auch die Suche nach Virginias Geheimnis, das zugleich ein neues Licht auf Angelicas Mutter wirft. In dem Moment, als das fortgeschrittene Schreibexperiment Angelica und Quentin zu Mutmaßungen über das Verhältnis von Vanessa und Virgina animiert, verschafft sich Vanessa mit ihrer Version der Geschichte Gehör, als sie zusammen mit der Nachricht von Virginas Tod auch ihre persönliche Lebensgeschichte preisgibt. Durch die Offenbarung ihrer Mutter, die hier zu einer weiteren intradiegetischen Erzählerin wird, wandelt sich am Ende Angelicas Blick auf Mutter und Tante und stellt ihr in ihrem Reifungsprozess die Aufgabe, das ihrer Sehnsucht inhärente Mutterbild zu relativieren und zu entdecken, dass auch eine Mutter am Ende nur ein Mensch mit einer eigenen Geschichte ist – ein Mensch, der fehlen kann, wenn er aufgrund seiner Erfahrung deutet, was das Beste für ihr Kind sei. Wie schon in dem vorherigen Roman „Brüder für immer“ (Orig. 2010; dt. 2016) spürt sich Kromhout tief in das Bloomsbury-Szenario und seine Protagonisten hinein und nimmt uns mit in eine exotische Kindheit in der Bohème, beschwert von der Last, besonders sein zu müssen. Es bleibt abzuwarten, was die jungen Leser*innen in diesem Werk, das sich wie der Vorgängerband auch als fiktionales Experiment einer kulturhistorischen Studie lesen lässt, für ihre Realität entdecken können.
Medium erhältlich in:
49 KÖB St. Marien Schmelz,
Schmelz
Personen: Kromhout, Rindert Erdmann, Birgit
Kromh
Kromhout, Rindert ¬[Verfasser]:
Anders als wir / Rindert Kromhout. - Deutsche Erstausgabe. - München : Mixtvision-Verlag, 2018. - 267 Seiten
Einheitssacht.: April is de wreedste maand
ISBN 978-3-95854-122-1 kartoniert
Zugangsnummer: 2019/0073 - Barcode: 2-1250441-9-00000396-4
Jugendbücher (ab 13 Jahre) - Buch