"Ich kann nicht mehr lesen." Was für eine beängstigende Feststellung, die der namenlose Junge in "King kommt noch" macht. Nach der langen Flucht kommt die vierköpfige Familie endlich an. Das neue Land gibt nicht nur viele Rätsel auf, sondern hat auch innerhalb der Familie etwas ausgelöst. Die Eltern haben keine Antworten, die Buchstaben ergeben keine Geschichten mehr. Vertraut sind lediglich Geräusche wie das Klingeln von Mamas Ohrringen, das sowohl beruhigend als auch warnend klingen kann. Oder das Geräusch von Sirenen, das eine tief sitzende Angst auslöst. Erzählt wird hier nicht über ein Einzelschicksal - der Ort, die Zeit, die Figuren bleiben unbestimmt, sind Platzhalter für viele traumatische Fluchterlebnisse. Und doch bietet die Geschichte so viel Identifikationsmöglichkeit, Tiefe und Gefühl. Die greifbaren Figuren bleiben namenlos, einzig der Hund King, der zurückgelassen werden musste, trägt einen Namen. Er steht für die Hoffnungen und Wünsche des Jungen, für seine Sehnsucht und für die Angst um die Zurückgelassenen. Voller Vorfreude und doch ängstlich erwartet der Junge die Ankunft seines Hundes. Der noch eine weite gefährliche Reise vor sich hat. Via Windtelefon lotst er ihn über die Berge bis hin zum Meer und warnt ihn vor vorbeifliegenden Raketen, bewaffneten Männern und der gefährlichen Bootsfahrt. Die vom Fließtext abgesetzten Textstellen - die Worte, die der Junge an seinen Hund richtet - beschreiben die verdrängten Erinnerungen an die traumatische Flucht. Während er ungeduldig wartet, löst er die Rätsel, die ihm sein neues Zuhause aufgibt und fühlt sich zunehmend wohler - er lernt, die Geschichten neu zu lesen, indem er den Bildern Leben einhaucht. Wie Jens Rassmus, der seine narrativen Zeichnungen in den Weißraum setzt, wodurch sich die Grenzen zwischen BetrachterIn und Betrachtetem manchmal aufzulösen scheinen. Durch die gedämpften Farbtöne und das Spiel mit Licht und Schatten, das noch mehr Tiefe schafft, spiegelt der Illustrator die Emotionen des Buches - Glück, Hoffnung, Trauer, Angst - glaubwürdig wider.
Altersempfehlung: ab 7 Jahren.
Personen: Karimé, Andrea
Leseror. Aufstellung: Hauptraum
Karimé, Andrea:
King kommt noch / Andrea Karimé. Mit Zeichn. von Jens Rassmus. - Wuppertal : P. Hammer Verl., 2017. - 36 S. : Ill. (farb.)
ISBN 978-3-7795-0568-6 fest geb. : 9,90 EUR
Erzählungen 6-8 Jahre - Signatur: Ju1 Kar - Buch