Eine Methode, einen Begriff zu verstehen, ist die Gegenüberstellung mit seinem Gegenteil. Für den Psychoanalytiker Verhaeghe bildet Narzissmus den Gegenpol zu Melancholie. Narzissmus bedeutet Vollständigkeit und Omnipotenz und greift zurück auf die Identifikation mit der allmächtigen Mutter. Allmächtig deshalb, weil sie dem Kind alles geben kann, was es benötigt. Während der ödipalen Phase löst sich diese Identifikation auf. Melancholie resultiert aus Verlust und Hilflosigkeit.
Wir sind es gewohnt, diese Ideen auf der Ebene des Individuums zu interpretieren - das Kind mit seinen Eltern, der Ödipuskomplex usw. Als Freud seine Texte »Zur Einführung des Narzissmus« und »Trauer und Melancholie« schrieb, ereignete sich dieser Konflikt auf globaler Ebene. Der Erste Weltkrieg erschütterte den phallischen Narzissmus auf brutale Art und Weise, worauf eine Phase des allgemeinen Trauerns folgte: Trauer über den Verlust des Vaters: »des« Vaters. Nach Verhaegehe kündigte diese Trauer das Ende des Patriarchats bzw., mit anderen Worten, das Ende traditioneller Autorität an. Dies zwingt uns, das Konzept der Autorität als solches zu überdenken.
Personen: Verhaeghe, Paul
CU 2000 V511-01
Verhaeghe, Paul:
Narziss in Trauer : Das Verschwinden des Patriarchats / Paul Verhaeghe. - Wien ; Berlin : Turia + Kant, 2015. - 94 S.
ISBN 978-3-85132-778-6
Klinische Psychologie - Buch