Gelungener mehrdeutiger Titel für einen außergewöhnlichen Roman, in dem vier Männer und eine archaische Landschaft die Hauptrolle spielen. (DR) In der Nähe von Arles in der Provence gibt es eine Landschaft, die nicht den Touristen gehört, sondern dem Mistral, der riesige Schafherden vor sich her treibt. Wenn die Tiere im Sommer von den Schäfern auf die Alpilles begleitet werden, zeigt sich die karge, steinige Landschaft der Crau noch öder. Aus einer dieser Schäferfamilien kommt Nel: Er folgt der jahrhundertealten Tradition nur noch sporadisch und hat sich beruflich auf Panoramafotos spezialisiert. Sein Lieblingsmotiv: die raue Ebene der Crau, der enge Verbindungen zur griechischen Mythologie nachgesagt werden. Nels engster Freund ist der Brite Matt, der sich vor einigen Jahren mit seiner Familie in der Region angesiedelt hat. Er plant einen Dokumentationsfilm über die "Chu", eine legendäre Diskothek. Damit entfaltet sich der zweite Handlungsstrang des Romans mit einem authentischen Kern: Zwei Brüder aus der Gegend sind tatsächlich am selben Tag gestorben - zehntausend Kilometer voneinander entfernt und noch keine vierzig Jahre alt. Mit ihrem exzessiven Leben sind die beiden ungleichen Geschwister in den 1980er Jahren die gefeierten Kultstars der "Chu". Fabien und Christian sind sich nur in einem einig: in ihrem kompromisslosen Lebenshunger und ihrer Gier nach Freiheit und Unabhängigkeit. Da finden sich durchaus Parallelen zum unbändigen Drang nach Selbstverwirklichung bei Matt und Nel. Nel ist noch dazu ein Cousin der Brüder und muss sich nun nach Jahrzehnten - im September 2015 - etwas widerwillig mit seiner Beziehung zu ihnen und seiner eigenen Jugend auseinandersetzen. Die farbenprächtigen Schmetterlinge, nach denen Fabien mit seinem Vater in Madagaskar sucht, und die beständigen Schafe in der archaischen Landschaft der Crau symbolisieren völlig unterschiedliche Lebensentwürfe. Die 1980er Jahre werden nicht verklärt, immerhin fordern individuelle Freiheit und maximale Risikobereitschaft mitunter einen hohen Preis. Ein Ergebnis seiner Recherche hat den Autor verblüfft und er entlarvt im Roman die trügerische Kraft der subjektiven Erinnerung: Hat bei der Beerdigung der beiden Brüder nun die Sonne vom Himmel geknallt oder hat es doch in Strömen gegossen? Neben der Vielschichtigkeit der Handlung ist die faszinierende Schilderung dieser Landschaft hervorzuheben. Auch die großartige Leistung der Übersetzerin Claudia Kalscheuer gehört unbedingt vor den Vorhang geholt! Dem anspruchsvollen Roman sind viele Leser_innen zu wünschen, denn "vielleicht bereichert es uns in gewisser Weise, das Leben derer, die nicht mehr da sind, näher zu betrachten." (S. 129) - mit dieser Lektüre sogar sicher.
Medium erhältlich in:
64 Öffentliche Bücherei,
Münster
Personen: Prudhomme, Sylvain Kalscheuer, Claudia
Prudhomme, Sylvain:
Legenden : Roman / Sylvain Prudhomme. Aus dem Franz. von Claudia Kalscheuer. - Zürich : Unionsverl., 2019. - 245 S.
ISBN 978-3-293-00544-0 fest geb. : ca. € 22,70
Schöne Literatur - Signatur: Prudh - Buch