Liebe auf Leben und Tod Michael Köhlmeiers Roman "Madalyn" In ihrem Roman "Eine Handvoll Leben" schrieb Marlen Haushofer: "Die Kindheit war nicht sanft und idyllisch, sondern der Schauplatz wilder, erbitterter Kämpfe unter der Maske rosiger Wangen, runder Augen und unschuldiger Lippen. So mörderisch waren diese Kämpfe, daß die meisten Menschen sie entsetzt zu vergessen suchten und sich einbildeten, sie seien nach Jahren oberflächlicher Spiele und leichtgestillter Tränen erst zum wahren Leben erwacht." In "Madalyn" schildert Michael Köhlmeier diese Kämpfe der Kindheit an der Schwelle zum Erwachsenwerden, und obwohl er das mit leichter Hand, ja beinahe beschwingt tut, verschweigt er nicht, daß es Kämpfe auf Leben und Tod sind. Der schmale Roman (dem man nicht unrecht täte, würde man ihn eine Erzählung nennen) läßt sich als ein Anhängsel an Köhlmeiers Jahrhundertbuch "Abendland" betrachten. Eine Handvoll Leben in Wien als Fußnote zum europäisch-transatlantischen Panorama. Als Ich-Erzähler fungiert wieder der Schriftsteller Sebastian Lukasser, der es sich nach seiner Scheidung und der Trennung von seiner Freundin, mit der er nach wie vor ein "zuverlässiges emotionales Notprogramm" unterhält, in einem produktiven Single-Dasein gemütlich gemacht hat. Im Frühjahr 2009 ist er ganz auf die Arbeit an einem Roman über einen jungen Mörder konzentriert (man darf raten, daß Köhlmeier mit ähnlichem zugange ist), als das Leben in Gestalt der Nachbarstochter Madalyn bei ihm anklopft. Lukasser kennt das Mädchen, das mit seinen Eltern einen Stock tiefer wohnt, von klein auf. Seit Madalyn im Alter von fünf Jahren einen Fahrradunfall hatte und er sich, da ihre Eltern nicht erreichbar waren, um sie gekümmert hat, kennt er sie noch ein bißchen besser. Jetzt ist sie knapp vierzehn und hat offensichtlich etwas auf dem Herzen. Ihr "Lebensretter" von einst ist gar nicht so glücklich darüber, daß die leibhaftige Madalyn seiner Erinnerung an sie - er wollte die Unfallgeschichte in einer Erzählung verwerten - in die Quere kommt: "Ich hatte ein Bild von ihr, aber das hatte ich aus der Luft gegriffen, aus der Sentimentalität meines unbedankten Heldentums, ein präliterates Ding war sie für mich gewesen, eine Inspiration." Das heikle Verhältnis von Fleisch und Blut und Papier bestimmt dieses Buch ebenso wie die Einsicht, daß erzählen nichts anderes heißt, als listenreich zu lügen. Wie sich bald herausstellt, hat Madalyn ein Problem, das ebenso erschütternd ist wie banal: Liebeskummer. Ausgerechnet der bereits polizeibekannte Moritz Kaltenegger aus der fünften Klasse hat ihr Herz erobert - mit einem Gedicht. Kaum sind die beiden zusammen, entpuppt er sich als pathologischer Lügner, der zumindest ein doppeltes Spiel spielt. Und Madalyns Eltern, die mit Geldverdienen und -ausgeben zu sehr beschäftigt sind, um für ihre Tochter echtes Interesse aufzubringen, sehen sich bemüßigt, einen letzten Rest elterlicher Präsenz durch das Erlassen von Verboten zu behaupten. Die Kämpfe, die Madalyn mit ihrer egozentrischen Mutter ausficht, haben durchaus Haushofersche Dimension. Während der Schriftsteller Lukasser nichts so sehr fürchtet, wie als Madalyns Vertrauter in reale Schwierigkeiten verwickelt zu werden, stürzt sich sein unmittelbarer Vorgesetzter, der Schriftsteller Köhlmeier, mit spürbarem Vergnügen in die Geschichte des Mädchens mit dem tollen Namen. So sorgt er dafür, daß eineübergangene Romanfigur doch noch zu ihrem Recht kommt. Madalyn erzählt Lukasser ihre Geheimnisse, und der erzählt sie, mit personaler Einfühlung, uns: "Sie war im Himmel. Einmal will ich diesen Ausdruck verwenden dürfen." Um Literatur, um die Frage, wie man etwas schreiben darf und soll und ob es sich auszahlt, sich mit fremden Federn zu schmücken, geht es in dieser Erzählung von Anfang an. Poesie als Aphrodisiakum: zwar scheitert die Initiation des Mädchens durch eine sympathische Buchhändlerin, zwar will Madalyn nur auf die Exkursion nach Weimar mitfahren, weil sie da mit ihrem geliebten Lügner zusammen sein kann, doch immerhin gibt sie dem Profi Lukasser Ezzes, wie er die Erzählperspektive seines Mörder-Romans anlegen soll: "Ist es nicht am allerbesten, Sie erzählen die Geschichte. Das tun Sie sowieso." Ja, das tut er sowieso. Aber nicht so einfach und geradlinig, wie man, vom lässigen Ton verleitet, vielleicht glauben möchte. Hier wird ständig mit gespaltener Zunge gesprochen. So ist der Autor gegenüber Moritz, dem grandiosen Gschichtldrucker und Opfer zerrütteter Verhältnisse, viel nachsichtiger als Lukasser, der ihn, ganz Ersatzvater und als solcher zu keusch verschwiegenem Besitzanspruch befugt, nicht ausstehen kann. Und dem Paar dennoch seine Wohnung zur Verfügung stellt. Daß es auch Moritz ernst ist mit dieser Liebe, daß er jedoch mit Madalyns Unbedingtheit einfach nicht mithalten kann, wird im Lauf des Geschehens klar. Die Liebe scheitert, wie alle ersten Lieben scheitern, man möchte sagen: naturgemäß. Immerhin gibt es keine Toten. Michael Köhlmeiers Kunst der Empathie versagt auch bei seinen jugendlichen Helden nicht, jedenfalls nimmt man ihm ab, daß Teenager so denken und reden. Überhaupt überzeugt die Geschichte, von ein paar läßlichen Lektoratssünden abgesehen, auch sprachlich durch ihre feine Gewöhnlichkeit. Mit Lukassers Ruhm geht Köhlmeier bald kokett, bald sanft ironisch um: Madalyn kann mit ihrem Dichter-Interview bei ihrer Deutschprofessorin ordentlich Eindruck schinden. Lukasser selbst muß sich eines Tages zu seinem nicht geringen Erstaunen als einsamen Mann erkennen, der als Künstler den berechenbaren Tagesablauf eines Beamten hat. Bei allen Anspielungen auf Nabokov und Thomas Mann und Werner Bergengruen ist dieser kompakte kleine Roman einmal mehr eine Reverenz Michael Köhlmeiers an die amerikanische Tradition, nicht nur in der Dialog- und Erzählstruktur. So wie er Wien als Schauplatz ausleuchtet, die Naschmarktgegend oder die Schrebergärten an der Alten Donau, präzis und mit einer gewissen Beiläufigkeit, so erzählen andere von New York oder besser: von Menschen in New York. Der Wucht der ersten Liebe hält so manches romantische Versprechen nicht stand: Die "Venediger Au" beim Prater existiert nur noch als Straßenname, im einstmals kaiserlichen Jagdrevier regiert heute die käufliche Liebe. Als Bausteine im Lügengebäude verwendet Köhlmeier übrigens etliche reale Personen, von der Direktorin der Nationalbibliothek bis zu einer derzeit expandierenden Gastronomie-Unternehmerin. Das Gymnasium Rahlgasse kommt ebenso zu Ehren wie die Buchhandlung der Frau Jeller. In der Cantinetta Antinori packt man dem Meister dreierlei Mousse für zu Hause ein: "Tun sie normalerweise nicht. Für mich gab's eine Ausnahme." So gut lebt es sich als berühmter Autor in Wien. In der Dreifaltigkeit des süßen Abschlusses klingt die Lektion des Buches dennoch nach: Selbst in den heimeligsten Städten geschieht andauernd Lebensgefährliches. *Literatur und Kritik* Daniela Strigl
Rezension
Personen: Köhlmeier, Michael
Köhlmeier, Michael:
Madalyn : Roman / Michael Köhlmeier. - München : Hanser, 2010. - 172 S.
ISBN 978-3-446-23597-7
Romane, Erzählungen und Novellen - Signatur: DR Köhl - Buch