Die raffiniertesten Romane schlüpfen oft in eine gängige Verpackung und sprengen von innen her alles Konventionelle. Hans Platzgumer schickt seinen Helden Gerold Ebner auf einen Berggipfel, damit er dort umgeben von jähen Abgründen sein Leben reflektieren kann. Üblicherweise geht man ja ins Gebirge, um das Tal-Leben hinter sich zu lassen, der Ich-Erzähler am Rand aber gibt sich nicht lange den Lichtverhältnissen und Schattierungen im Gebirge hin und beginnt zu schreiben. Er hat sich ein leeres Gipfelbuch mitgenommen, das er mit seinem Leben vollschreiben wird. Mit dem Ermunterungsruf "Hitotsu" aus der Welt des Karate, was so viel wie "Erstens, los geht's" bedeutet, bringt der Held die erste Ordnung in die Aufzeichnungen und somit ins Leben. "Was immer wir erinnern, wir haben es nicht gegoogelt sondern erlebt." (51) Für bemerkenswert hält er, dass er als Kind einer Südtiroler Prostituierten in Vorarlberg gleich doppelt stigmatisiert ist, erstens als Südtiroler einer Südtirolersiedlung, zweitens als Kind, dem der zweite Teil der Herkunft fehlt, vom Vater nämlich fehlt jede Spur. Wenn es keine geordneten Familienverhältnisse gibt, muss man selbst Ordnung schaffen. Der Großvater hat letztlich das Schicksal seiner Mutter verursacht und benimmt sich noch immer wie ein Monarch, wenn er zu Besuch ist. Endlich hat der Jugendliche ein echtes Feindbild, an dem sich die eigene Identität abarbeiten lässt. Als die Gelegenheit günstig ist, erstickt der Held seinen Großvater. Wahrscheinlich muss man das Ungemach beseitigen, wenn es sich sonst nicht lösen lässt. Ein loser Freund verätzt sich die Speiseröhre, als er versehentlich aus einer falschen Flasche trinkt. Er bittet und bettelt, dass er erlöst werden möge. Auch in diesem Falle unterbricht der Erzähler die Atmung und erlöst den Gequälten. Letztlich geht auch die Beziehung zur Freundin Elena in die Binsen. Der vergebliche Kinderwunsch lässt die beiden ein Kind kapern, das im Stiegenhaus auftaucht und niemandem gehört. Das Kind lässt sich nach einiger Zeit nicht mehr öffentlich anmelden, das Trio ist ständig auf der Flucht vor sich selbst. Und dieses Mal ist es das Schicksal selbst, das eingreift, Freundin und Kind stürzen bei einer Bergtour zu Tode. Dem "Aufräumer" bleibt nur noch das Verstecken der Leichen in einem Tobel. Allmählich wird es Abend am Gipfel, der Held packt seine Aufzeichnungen zusammen und steckt sie als Gipfelbuch weg. Jetzt liegt es an dem Finder der Geschichte und dem Leser, seine moralischen Schlüsse aus dem Fall zu ziehen. Hans Platzgumer verankert seinen Plot mit raffinierten Erzählmethoden in den diversen Gesteinsstrukturen der Fiktion. Einmal taucht ein Hansi Platzgummer auf und geht als Musiker in Amerika verloren, dann gibt es wieder Elementarsätze wie: "Alle taugen als Romanfiguren!" (125) Das Elendsnest Glurns, aus dem die Mutter des Protagonisten hat fliehen müssen, ist ähnlich mickrig aufgebaut wie der Weiler Platzgumm, von dem die Platzgummers ihren Namen ableiten. - Der Roman geht immer wieder ans Äußerste und lässt den Leser am Rand des Abgrunds hinunterblicken in die schaurige Psyche eines unauffälligen Helden. Helmuth Schönauer
Personen: Platzgumer, Hans
DR
PLA
Platzgumer, Hans:
Am Rand : Roman / Hans Platzgumer. - Wien : Zsolnay-Verl., 2016. - 206 S.
ISBN 978-3-552-05769-2 fest geb. : ca. Eur 20,50
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