Es ist eine wohlsituierte bildungsbürgerliche Welt, aus der Schlink wissend und souverän erzählt. Analog zu seinem Lebensalter (Schlink ist Jahrgang 1944) altern auch die Figuren seiner Geschichten und die Perspektive der Rückschau auf das eigene Leben dominiert. Das liest sich immer leicht, manchmal zu flüssig und bleibt z.B. bei der ersten Geschichte über den Verrat am Freund nur an der Oberfläche. Herausstechend und berührend ist für mich die Erzählung "Sommer auf der Insel", in der ein elfjähriger Junge erstmalig mit der Mutter allein in Urlaub fährt und sie dabei völlig neu - als Frau - wahrnimmt. Gekonnt, mit Vorsicht und Wahrhaftigkeit porträtiert der Autor hier einen Jungen, der verbunden mit ersten erotischen Gefühlen und Begegnungen erkennt, dass seine Mutter ein Eigenleben und eine lebendige Sinnlichkeit hat. Ebenso überzeugend die Erzählung um die Beziehung eines Mannes zum jüngeren Bruder, die erst im Alter nach dessen Tod reflektiert und in ihrem weiten Spektrum erfasst werden kann. Beeindruckend, wie Schlink die Gefühle und die Empfindlichkeit des erfolgsverwöhnten Älteren gegenüber dem Jüngeren in Bild setzt und damit die Tiefe familiärer Bindungen und Verletzungen auslotet.
Eine Sammlung, die sich gut für Literaturgesprächskreise der Generation über 55 eignet.
Rezensent: Gabriele Kassenbrock
[Quelle: Eliport]
Personen: Schlink, Bernhard
Schli
Schlink, Bernhard:
Abschiedsfarben : Geschichten / Bernhard Schlink. - Zürich : Diogenes Verlag AG, 2020. - 231 Seiten
ISBN 978-3-257-07137-5 Festeinband : 5,29 EUR
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