Eine junge Frau wird von einem mysteriösen Ort in den Bann geschlagen, der von einem unterirdischen Hohlraum verschlungen zu werden droht. (DR) Ruth, die gerade über ihrer Doktorarbeit sitzt, erhält die Nachricht, dass ihre Eltern tödlich verunglückt sind. Sie möchte deren Wunsch, in Groß-Einland begraben zu werden, erfüllen. Doch sie weiß nur, dass dieser Ort irgendwo im Wechselgebiet liegen muss. Seltsamerweise erhält sie amtlicherseits die Auskunft, dass es keine Gemeinde dieses Namens gibt. Dennoch macht sie sich auf die Suche und gelangt tatsächlich in das kleine Städtchen. Es wirkt wie aus dem Bilderbuch: herausgeputzte Häuser, verwinkelte Gässchen und darüber das auf einem Hang thronende Schloss. Ruth kehrt im Gasthof zum Fröhlichen Kürbis ein und erfährt ein wenig über die Verhältnisse des Ortes. Das Sagen hat eine sogenannte Gräfin, von der die meisten BewohnerInnen abhängig sind. Offensichtlich will sie auch Ruth für ihre Zwecke einspannen und macht ihr ein Arbeitsangebot. Zunächst ist diese verwirrt, sie will ja nur bis zum Begräbnis ihrer Eltern bleiben. Doch fühlt sie sich merkwürdig von Groß-Einland angezogen, obwohl sie spürt, dass hier etwas Bedrohliches vorgeht. Der Ort liegt direkt über einem ehemaligen Bergwerk und der Sog, der von dem riesigen unterirdischen Hohlraum ausgeht, bewirkt eine stetige Absenkung, die immer größere Risse an Gebäuden und Straßen verursacht. Die Gräfin möchte, dass Ruth diesen katastrophalen Zustand mit "wissenschaftlichen" Kommentaren relativiert. Das Motto lautet "Schönung, Streckung, Auffüllung". Außerdem soll die junge Physikerin ein Füllmittel kreieren, um den Untergang Groß-Einlands zu verhindern. Schwankend zwischen Unbehagen und Euphorie nimmt sie das Angebot an. Doch "das Loch war im Grunde unbeherrschbar. Es war ein unendliches Ausatmen des Landes, dessen Brustkorb sich bis an die Rippen senkte, diese durchbrach und die Organe verdrängte." Und so wie das Loch Groß-Einland zu verschlingen droht, scheint es etwas anderes an die Oberfläche zu bringen. Etwas, wovon die BewohnerInnen des Ortes nicht sprechen wollen. Während der Sog aus der Tiefe immer stärker wird, Gebäude in sich zusammenfallen, Menschen und Tiere in den sich auftuenden Spalten verschwinden und schließlich der Kirchturm einstürzt, wird immer unerklärlicher, warum die BewohnerInnen nicht schon längst die Flucht ergriffen haben. Man mag das Buch nicht aus der Hand legen, bevor man weiß, ob es Ruth gelingt, sich aus dem Bann des mysteriösen Ortes zu befreien. Der Angelpunkt des vielschichtigen Romans ist ein nicht gesühntes Verbrechen, das durch die im Erdinneren arbeitenden Kräfte nun offensichtlich ans Licht kommt. Ein hochdramatischer Stoff wie aus einem antiken Drama. Der unaufgeregt-nüchterne Stil der Autorin schafft dazu eine Distanz, welche die Ungeheuerlichkeit des Geschehens umso stärker zum Ausdruck bringt. Obwohl das Rätsel von Raum, Zeit und Bewusstsein immer präsent ist, wird es nicht explizit herausgestellt, sondern eher nebensächlich eingeflochten. Nicht zufällig liegt Groß-Einland ganz in der Nähe von Kirchberg am Wechsel, wo Ludwig Wittgenstein einige Monate lebte. Auch Referenzen an andere Autoren werden spielerisch eingefügt. So gibt es in Groß-Einland nicht nur einen Hutmacher, auch die herrische Gräfin scheint ein Pendant der grausamen Königin von Alice in Wonderland zu sein. Und das Schicksal, auf klare Fragen absurde Antworten zu erhalten, teilt Ruth sowohl mit Alice als auch mit K. in Kafkas "Schloss". Es ist faszinierend, wie Raphaela Edelbauer sich dem Thema Schuld und Sühne nicht nur ethisch nähert, sondern auch die materielle (tektonische) Dimension miteinbezieht. "Das flüssige Land" ist außergewöhnlich, es verwundert nicht, dass sich schon vor seinem Erscheinen zehn Verlage um das Manuskript bewarben.
[Quelle: biblio.at]
Personen: Edelbauer, Raphaela
Ede
Edelbauer, Raphaela:
Das flüssige Land : Roman / Raphaela Edelbauer. - Stuttgart : Klett-Cotta, 2019. - 349 Seiten
ISBN 978-3-608-96436-3 Festeinband : EUR 9,29
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