Während der deutschen Kolonialherrschaft in Ostafrika kreuzen sich die Schicksale vier junger Menschen, die in ihrem Kampf ums Überleben in kriegerische Auseinandersetzungen geraten. (DR) Die beiden jungen Männer Khalifa und Ilyas lernen sich im Jahr 1907 in einem ostafrikanischen Dorf kennen. Zu dieser Zeit sind große Gebiete Ostafrikas von den Deutschen besetzt. Khalifa arbeitet für einen indischen Kaufmann, der ihn mit einer seiner Verwandten verheiratet. Ilyas und seine kleine Schwester Afiya haben keine Eltern mehr. Daher beschließt Ilyas zu den Askaris zu gehen. Askaris wurden jene Afrikaner genannt, die von den Kolonisatoren zwangsrekrutiert wurden. Lange wird man nichts über Ilyas’ Schicksal erfahren. Bei den Azaris dient auch der junge Hamza als Bursche eines Offiziers. Dieser fühlt sich von dem schönen jungen Mann erotisch angezogen und behandelt ihn vielleicht deshalb abwechselnd brutal, dann wieder verwöhnend. Der Autor verflicht die Schicksale dieser vier Menschen eher lose und die Leser*innen erfahren erst nach und nach, welche Beweggründe zwei von ihnen dazu gedrängt haben, sich in die deutsche Schutztruppe zu flüchten, wo sie während des Ersten Weltkriegs für das deutsche Kaiserreich kämpfen mussten. Herzzerreißend ist die Geschichte der kleinen Afiya, die sich als Waise bei Verwandten verdingen muss und halb tot geprügelt wird. In äußerster Not wird sie gerettet, später entspinnt sich zwischen ihr und Hamza eine zarte Liebesgeschichte. Auch Hamza ist nur knapp dem Tod entronnen und durch eine schwere Verletzung zum Invaliden geworden. Gurnah berichtet von zahlreichen im Namen des deutschen Kolonialismus begangenen Gräueltaten ohne diese voyeuristisch auszuschlachten. Die Lektüre vermittelt einen Einblick in die Geschichte Afrikas zu Beginn des 20. Jahrhunderts und welche Wunden Deutsche, Briten und Niederländer dem Kontinent zugefügt haben. Wenn der Roman dazu beiträgt, dass Europäer*innen die Nachwirkungen dieser Wunden, zu denen auch die Migration gehört, mit anderen Augen sehen, wäre das allein schon das Lesen wert. Allerdings, es mag angesichts des Stoffes seltsam klingen, ist »Nachleben« auch ein schönes Buch. Gurnahs Stil ist schlicht und elegant. Ohne Pathos bringt er den Leser*innen menschliche Schicksale nahe ohne zu psychologisieren oder zu werten. Der großartige Roman ist sehr empfehlenswert.
Personen: Gurnah, Abdulrazak
Gurnah, Abdulrazak:
Nachleben. - München : Penguin Verlag, 2022. - 379 Seiten
ISBN 978-3-328-60259-0 Festeinband : 19,99 EUR
Schöne Literatur - Signatur: SL Gurna - Buch