Breitenfellner, Kirstin
Bevor die Welt unterging Roman
Buch

Judith ist gerade mal 14, hat aber nicht mehr lang zu leben. Niemand hat mehr lange zu leben, denn es ist das Jahr 1980. Wer nicht dem immer drohenden Atomkrieg oder einem explodierenden AKW zum Opfer fällt, stirbt an der verpesteten Luft, am belasteten Trinkwasser oder der tödlichen Sonnenstrahlung, die ungehindert durch das menschengemachte Ozonloch dringt. Wer nicht so schnell Krebs bekommt, wird noch miterleben, wie in ein paar Jahren der letzte Baum stirbt. Zumindest glauben viele Menschen in Deutschland das zu diesem Zeitpunkt. „Es leuchtete Judith ein, dass man seine Jugend genießen musste. Sie sollte sich nach Kräften darum bemühen, aber ihre Jugend sollte ihr gehörig auf den Magen schlagen.“ (S. 16) Dies ist die Geschichte von Judith, einer intelligenten, vielleicht etwas grüblerischen Jugendlichen – und es ist die Geschichte eines Jahrzehnts, das bleiern begann und sich erst kurz vor seinem Ende aufraffte, ein neues Kapitel der Weltgeschichte aufzuschlagen. Das ganz am Ende doch noch ein wenig Hoffnung zuließ, dass vielleicht nicht alles gut, aber manches besser werden kann. Das Judith mit Anfang 20 doch noch eine Jugend gönnte. Erzählt wird die Geschichte überwiegend personal aus der Perspektive der heranwachsenden Judith, immer wieder unterbrochen von auktorialen Erzählerkommentaren, die das Denken und Erleben der Jugendlichen mit dem Abstand mehrerer Jahrzehnte einordnen, beurteilen, manchmal in Frage stellen. Dazu gehören nicht nur die Wahrnehmung von Politik und Zeitgeschichte, sondern ebenso dominant Themen, die für alle Jugendlichen von Bedeutung sind: Freundschaften, erste Liebesbeziehungen, Auseinandersetzungen mit Eltern und Schule, Musik. Durchgehend spürbar ist dabei die Spannung zwischen Freiheitsstreben und kleinbürgerlicher Enge, kämpferischem Trotz und Hilf- und Hoffnungslosigkeit. Die Grundstimmung ist melancholisch, das gezeichnete Bild der alten Bundesrepublik wirkt wie ein Gegenentwurf zu Leander Haußmanns Ostalgie-Klassiker „Sonnenallee“, bei dem es am Schluss heißt: „Es war einmal ein Land und ich hab' dort gelebt. Wenn man mich fragt, wie's war: ‚Es war die schönste Zeit meines Lebens, denn ich war jung und verliebt.‘“ Auch Judith ist jung und verliebt, mehr als einmal: „Wenn sie später auf ihre erste Clique, aber auch auf die Freundeskreise danach zurückschauen würde, würde sie sich wundern über das Gewirr von Beziehungen und darüber, wer mit wem geschlafen hatte oder eine Beziehung geführt. Es war nicht so, dass diese Paare alle so gut zueinander gepasst hätten. Sie waren einfach da gewesen, und der Rest hatte sich ergeben. Heidi mit Nosso, Judith mit Anders, Tobias mit Heidi, Ella mit Anders, Judith mit Tobias, die scheppe Babsi mit Hermann, Nosso mit der scheppen Babsi.“ (S. 199) Breitenfellners Roman erklärt uns, dass die Dinge kompliziert sind. Sie hat einen Roman über die 80er geschrieben, aber aus dem postideologischen Zeitalter heraus, dass seine neuen Paradoxien produziert hat, mit der die Jugend heute zurechtkommen muss. Mit Brecht, der im Roman mehrmals zitiert wird: „Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen.“ Und wie Brecht nicht den Bauch, sondern das Hirn ansprechen will, wirkt auch Breitenfellners Roman eher dort: Ein Buch, das einem Vieles nahebringt, ohne einem wirklich nahezugehen. Das muss kein Makel sein, wenn man Judith zustimmt, um was es bei Literatur eigentlich geht: „Bücher mussten das Leben erklären, auch wenn sie erfunden waren.“ (S. 125)


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Personen: Breitenfellner, Kirstin

Standort: EB

Leseror. Aufstellung: EB

BREI

Breitenfellner, Kirstin:
Bevor die Welt unterging : Roman / Kirstin Breitenfellner. - Wien : Picus-Verl., 2017. - 229 S.
ISBN 978-3-7117-2053-5 fest geb. : EUR 19,80

Zugangsnummer: 2018/0029 - Barcode: 2-2073403-7-00003145-5
EB - Buch