Schäfer, Gerd E.
Bildung beginnt mit der Geburt Ein offener Bildungsplan für Kindertageseinrichtungen in Nordrhein-Westfalen
Buch

Der durch PISA wachgewordenen öffentlichen Diskussion nach größerer Effizienz der Bildungsinstitutionen antwortet Gerd Schäfer mit einem entwicklungspsychologisch begründetem Konzept für den frühkindlichen Bildungsprozess. Dabei wird immer wieder auch deutlich Stellung bezogen, was Bildung nicht ist, z.B. der ausschließliche Erwerb von einzelnen Kompetenzen, aber ebenso wenig die Vorverlegung von schulischen Inhalten bzw. des Schulbesuchs selbst. Schäfer gibt hingegen Orientierungshilfen, Kinder in ihrem Selbstbildungsprozess zu verstehen und darauf aufbauend sie dabei zu unterstützen und zu fördern. Im ersten Teil wird die Frage gestellt, was frühkindliche Bildung eigentlich ist. Dabei bilden neuere Ergebnisse der Kognitionsforschung, insbes. der Hirnforschung, sowie der Säuglings- und Wahrnehmungsforschung, aber auch der modernen Tiefenpsychologie eine wesentliche Grundlage. Es wird deutlich, dass es keine isolierten Funktionen und Kompetenzen gibt, sondern dass Wahrnehmen, Fühlen, Erkennen, Verarbeiten, Denken, soziales Verhalten, Sprechen ... nur in ihrem jeweils individuell geprägten Zusammenwirken dem Kind ermöglichen, die Welt zu erfahren. Es geht dabei immer um eine eigene, tätige Aneignung dessen, was es innerhalb der Kultur vorfindet. Schäfer weist darauf hin, dass diese Überlegungen in ihrer Grundstruktur nicht so besonders neu sind.- Reformpädagogische Ansätze und vor allem Maria Montessori gaben entscheidende Impulse für die Akzeptanz des Bildes eines aktiven, sich die Welt selbst erschließenden Kindes. In den von ihm formulierten 15 Thesen zur frühkindlichen Bildung geht es dem Autor im wesentlichen darum, klar zu machen, dass der Elementarbereich auf jeden Fall einen eigenen Bildungsbereich darstellt , der nicht nur die nach Bedarf wechselnden Anforderungen der Gesellschaft oder Schule an die Kinder berücksichtigen darf, sondern sich primär am Kind und seiner Tätigkeit orientieren muss. Teil 2 beschäftigt sich mit den Aufgaben frühkindlicher Bildung: Da die Wahrnehmung in allen Formen Ausgangspunkt für die kindliche Erfahrung von Welt und sich selbst ist, muss ihr entsprechende Aufmerksamkeit durch die Erzieher geschenkt werden.- Denn Sinneserfahrungen, die wenig gebraucht und kaum entwickelt werden, gehen verloren oder arbeiten nur auf einem einfachen Niveau. Bei der Auseinandersetzung mit dem kindlichen Denken werden die tiefreichenden Verbindungen zwischen sensorisch-motorischem Handeln und Denken erläutert, aber auch das Zusammenspiel zwischen Denken und Fühlen, durch das intelligentes Verhalten erst möglich wird. Ausführlich geht der Autor dann auf die Tätigkeiten des Spielens und des Gestaltens ein, in denen sich die spezifisch kindlichen Lernprozesse in besonders intensiver Weise ereignen können. Im dritten Teil geht es um die Schlussfolgerungen für die Gestaltung von Bildungsprozessen in Kindertagesstätten: Um diese so genannten Selbstbildungs-Potentiale bestmöglich einzusetzen und weiter zu entwickeln, benötigt das Kind vor allem sensibel wahrnehmende Bezugspersonen, die seine Entwicklungsmöglichkeiten erkennen und entsprechende Entwicklungsräume bereitstellen, d.h. eine anregungsreiche und herausfordernde Umgebung, die das Kind anspornt, schrittweise die eigenen Möglichkeiten zu erweitern. Bei dieser Auseinandersetzung mit der Umwelt entstehen immer wieder neue Fragen, deren Lösung für die Kinder interessant und aufregend sein kann, vorausgesetzt sie haben die Möglichkeit, ihren eigenen Fragen ernsthaft nachzugehen, bevor man ihnen Fragen zu lösen aufgibt, die sie nicht selbst gestellt haben. Demnach machen von der Erzieherin initiierte Projekte nur Sinn, wenn sie an den Alltagserfahrungen der Kinder ansetzen, die von ihr durch aufmerksame Beobachtung und einfühlsames Verständnis wahrgenommen werden. Es versteht sich in diesem Zusammenhang fast von selbst, dass hinsichtlich der Raumgestaltung hohe Anforderungen an das professionelle pädagogische Handeln gestellt werden - sind doch Räume so zu gestalten, dass sie die Neugierde und den Forscherdrang der Kinder befriedigen. Dafür notwendig ist auch die Flexibilität und Offenheit in der Struktur des Tagesablaufs, was für die Erzieherin oft bedeuten kann, ertragen zu müssen, dass Kinder eigene Wege gehen, auch wenn diese Wege nicht den Vorstellungen und Erwartungen des Erwachsenen entsprechen. Professionalität zeigt sich in der Folge ebenso darin, auch "Umwege" des Kindes weiter zu begleiten, mit ihm im Gespräch zu bleiben, vor allem ihm zuzuhören, was, wie und warum es etwas tut oder denkt. Generell wird in dem Buch dem Bildungsbereich "Sprache(n)" - ein vielleicht heute oft noch vernachlässigter Bildungsbereich - breiter Raum gewidmet; nicht zuletzt auch aufgrund der zunehmenden Zahl an Migrantenkindern und ihren spezifischen Problemen. Ganz konkrete Vorschläge in Form eines offenen Bildungsplans werden schließlich im vierten Teil des Buches angeboten. Ausgehend von den Selbstbildungspotentialen der Kinder werden Bildungsaufgaben für vier Bildungsbereiche, die nach heutiger Kenntnis für die Elementarbildung wichtig sind, formuliert: Bewegung, Spielen - Gestalten - Medien, Sprache(n), Natur und kulturelle Umwelt(en). Die jeweiligen Themenvorschläge werden als Beispiele genannt. Es handelt sich dabei um Themen, die dafür sorgen, dass Kinder die Breite ihrer inneren Verarbeitungsmöglichkeiten zu bestimmten Fragen einsetzen und nicht nur funktionale und kurzfristige Lernziele erreichen.- Daher wird besonderer Wert auf den Umgang mit Komplexität und auf das Lernen in Sinnzusammenhängen bzw. das Forschende Lernen gelegt, wobei auch emotionales und soziales Lernen nicht ausgeklammert bleiben. Der Autor verschweigt nicht, dass eine solche Bildungsarbeit, in der die jeweils individuellen Entwicklungs- chancen jedes einzelnen Kindes im Zentrum stehen, nur in überschaubaren Strukturen stattfinden kann, d.h. dass zwei Erzieherinnen nicht mehr als fünfzehn Kinder betreuen. Dieses Fachbuch, das auch als (offener) Bildungsplan verstanden werden kann, ist gut verständlich, ja oft spannend zu lesen und übersichtlich strukturiert. Eine intensive Auseinandersetzung damit könnte insofern lohnend und wertvoll sein, als es die wissenschaftliche Basis für die Begründung einer am Kind orientierten Bildungsarbeit darstellt. Dies könnte nicht nur die Qualität der Kindergartenpraxis nachhaltig beeinflussen, sondern auch wichtige Impulse für die politische Diskussion um die geeignete Form der institutionalisierten Kleinkinderziehung, liefern.


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Personen: Schäfer, Gerd E.

Schlagwörter: Erziehung Kindergarten Kindertagesstätte Bildung

Ngl Schäf

Schäfer, Gerd E.:
Bildung beginnt mit der Geburt : Ein offener Bildungsplan für Kindertageseinrichtungen in Nordrhein-Westfalen / Gerd E. Schäfer. - Weinheim : Beltz & Gelberg, 2003. - 200 S. ; 22 cm
ISBN 978-3-407-56226-5 geb.

Zugangsnummer: 2004/0192 - Barcode: 2-9187339-0-00010712-9
Kindergartenpädagogik, Vorschulpädagogik - Buch