Entgegen der traditionellen Sicht einer plötzlichen Bekehrung des Paulus vor Damaskus wird die These vertreten, dass sowohl vor wie nach dem Damaskuserlebnis eine längere Periode der Umorientierung bei Paulus erkennbar ist: Er wurde nicht als Pharisäer geboren, sondern schloss sich dem Pharisäismus an, "bekehrte" sich in ihm zu einem jüdischen Fundamentalismus und dann erst zum Christentum als einer moderateren jüdischen Bewegung. Während er in seiner vorübergehenden Phase als jüdischer Fundamentalist abweichende Binnengruppen unter Anpassungsdruck setzte, entwickelte er sich aufgrund seiner Bekehrung zum Christentum zu einem Universalisten, der das Judentum für alle Völker öffnen wollte. Nach seiner Bekehrung stand er in Gefahr, ein "christlicher" Fundamentalist zu werden, aber seine universalistische Ausrichtung nach außen und eine Toleranz gegenüber Gruppen nach innen setzten sich immer wieder, wenn auch nicht ohne Aporien, durch. Dabei griff er direkt oder indirekt auf seine Bekehrung zurück. Die knappen "Bekehrungsnotizen" und die indirekten Bezugnahmen auf sie müssen als Teil seiner Bekehrung verstanden werden, an der er lebenslang weiter arbeitete. Das Bild einer mehrphasigen Bekehrung und die Deutung von Bekehrungserzählungen als Teil der Bekehrung entspricht Erkenntnissen der psychologischen Bekehrungsforschung.
Enthalten in:
Evangelische Theologie; 2010/1 Zweimonatsschrift
(2010)
Serie / Reihe: Evangelische Theologie
Personen: Theißen, Gerd
Theißen, Gerd:
Die Bekehrung des Paulus und seine Entwicklung vom Fundamentalisten zum Universalisten / Gerd Theißen, 2010. - S.10-25 - (Evangelische Theologie) Bekehrung
Zeitschriftenartikel