„Shhhh...streng geheim!“ beschwörend legt der lockige Herr mit dem schwarzen Zylinder den Zeigefinger seines Händchens an unsichtbare Lippen. Ist er ein Zauberer? Was verschweigt er uns? Was verrät sein Zwinkern hinter der goldenen Brille? Lächelt er unter dem breiten Schnurrbart? Mit großer Plastizität tritt sein Brustbild aus dem samtigen, zitronengelben Cover hervor. Sanft und kristallklar, umschwebt von beziehungsvollen Etiketten und Aufklebern. Hier das Namensschild der Autorin Pei-Yu Chang, dort – als Eintrittskarte getarnt –, der Name des Verlages, rotgepunktete Papierblumen, Miniaturlandschaften, eine Ananas, auch die Rückseite ist übersät von Bildchen: ein Wachsoldat, ein springendes Spielzeugpferd und zahllose Gepäckaufkleber. Das große Buch ist ein einziger Koffer! Wir öffnen ihn und versuchen, die hellbraunen Stoffriemen auf der Einbandinnenseite aus ihren Schnallen zu lösen. Wir scheitern, denn sie sind gemalt. Überall vereint die Künstlerin die widersprüchlichen Facetten von Walter Benjamin. Ernst und Schalk, Kindliches und Artistisches. Größe und Unbeholfenheit. Seine Fähigkeit, winzigste Details wahrzunehmen und in grenzenloser Weite mit der Realität zu spielen. Dass Ideen und Geschichten so wertvoll sind wie Himbeermarmelade oder fliegende U-Boote, ist Kindern natürlich klar. Und wenn jemand einen ganzen Koffer davon hat, besitzt er einen Schatz, das ist sicher. So ein Schatzhauser ist Herr Benjamin. Leidenschaftlich umklammert er seinen dicken roten Koffer und schleppt ihn über Berg und Tal. Nein, den lässt er sich nicht entreißen, und koste es das Leben. Pu-Yei Chang betrachtet den radikalen Endpunkt im Leben des Dichters und Philosophen Walter Benjamin. Seit Jahren ist er auf der Flucht vor der Gestapo. Mit einem Visum für die USA in der Tasche folgt er im September 1940 Lisa Fittko, einer österreichischen Widerstandskämpferin, über steile Gebirgspfade an die französisch-spanische Grenze. Seinen schweren Aktenkoffer gibt er auf der anstrengenden Tour trotz seiner Herzschwäche niemals aus der Hand. Politik und Geschichte in einem Bilderbuch? Einem richtigen, schönen Bilderbuch? Geht das? Ja, Chang gelingt es. Ob es die zarten Schraffuren sind, die wolligen Kräusel, die kühnen Piktogramme? Oder die Schattierungen von Rot und Blau? Das Karo der 40er Jahre? Hier und dort sind Figuren und Objekte ausgeschnitten und aufgeklebt, das verleiht den doppelseitigen Bildern unerwartete Tiefe, oder „Aura“, wie Benjamin sagen würde. Nicht nur diese Collagentechnik erinnert an die Zeit brutaler Verfolgungen in Europa, auch in Architektur und Figurengestaltung lässt die Künstlerin Elemente von Expressionismus und Surrealismus einfließen. Herr Benjamin verschwindet, sein Manuskript geht verloren, doch die junge Künstlerin aus Taiwan zeigt uns den blauen Thronsessel, auf dem er Zylinder und Zauberstab zurückgelassen hat. Vielleicht ahnt sie, was in dem Koffer war: etwa eine fertige Fassung von „Berliner Kindheit um Neuzehnhundert“? Dieses Spätwerk enthält magische Wendungen wie: „... Denn niemals war der liebe, lange Tag mir lieber, niemals länger, als wenn der Regen mit seinen feinen oder groben Zähnen ihm langsam Stunden und Minuten strähnte. So folgsam wie ein kleines Mädchen beugte er den Scheitel unter diesen grauen Kamm. Und unersättlich sah ich ihm dann zu. Ich wartete. Nicht bis er nachließ. Sondern dass es mehr und immer üppiger herunterrauschte. Ich hörte es an die Scheibe trommeln, aus den Traufen strömen und gurgelnd in die Abflussrohre niederrauschen. Im guten Regen war ich ganz geborgen.“ Ein kongeniales Kunstwerk ist dieser „geheimnisvolle Koffer“, den Chang allen Menschen widmet, „die aus ihrem Land flüchten müssen“.
Personen: Chang, Pei-Yu Benjamin, Walter
LIT50/
Chang, Pei-Yu:
¬Der¬ geheimnisvolle Koffer von Herrn Benjamin / Pei-Yu Chang. Nach einer wahren Geschichte über Walter Benjamin. - Zürich : NordSüd Verl., 2017. - [22] Bl. : überw. Ill.
ISBN 978-3-314-10382-7 fest geb. : ca. Eur 18,50
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