Bedrückende Familiengeschichte vor dem Hintergrund der weltpolitischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts. (DR) Der neue Roman der aus Oberösterreich stammenden und in Freiburg i. Br. lebenden Evelyn Grill beginnt im Jahr 1983 in England am Grab einer Patriarchin. Außer dem alten Pfarrer, einem Vertrauten der Verstorbenen, dem Arzt und ein paar ihrer ehemaligen Schülerinnen, nehmen ihre Tochter Ann mit ihrem deutschen Mann und drei Kindern, ihr Sohn, "der arme Harry" und eine vorerst Unbekannte von Henriette Stanley Abschied. Vom Ende her entwickelt Evelyn Grill eine bedrückende, eine fürchterliche Familiengeschichte, die geprägt ist von den weltpolitischen Ereignissen des 20. Jahrhunderts und seinen ideologischen Zwängen. Henriette Stanley, aus einer reichen belgischen Reederfamilie stammend, wird von ihrem Bruder aus finanztaktischen Gründen mit einem Engländer verkuppelt, vom Ehemann verlassen und vom Bruder schließlich enterbt. Verbittert und verarmt hält sie sich mit Privatunterricht über Wasser und wird zur tyrannischen Mutter, die ihre Kinder mit ins Unglück reißt, weil sie ihnen jegliche Freiheit nimmt. Grill erzählt die Geschichte als Chronistin. Erst langsam klären sich die Hintergründe und das Geflecht der weit verzweigten familiären Beziehungen, die von England über Belgien nach Deutschland und bis nach Amerika reichen. Spannend ist die Geschichte trotzdem nicht. Viel zu lang hält sich die Erzählerin damit auf, die verkappte katholische Moral der 1950er Jahre zu beschreiben, viel zu ausführlich kommen die Unsicherheiten und Entscheidungsschwächen der einzelnen Personen in ihren langen Briefen zum Ausdruck und bleiben unaufgelöst im Raum stehen. Die handelnden Personen bleiben seltsam fremd und berühren einen als Leser/Leserin kaum. Man möchte sagen: Es ereignet sich nicht viel im Lauf der Jahrzehnte, aber das umso intensiver. Am besten gelungen finde ich das erste und das letzte Kapitel. Das erste, weil hier der Großteil des Personals ziemlich präzise in die Geschichte eingeführt wird und damit Interesse an den einzelnen Charakteren geweckt wird - was aber im Lauf des Romans wenig eingelöst wird. Das letzte, weil endlich einmal jemand - der bis dahin ziemlich farblose deutsche Schwiegersohn - handelt. *bn* Maria Fellinger-Hauer
Personen: Grill, Evelyn
Grill, Evelyn:
¬Das¬ Antwerpener Testament : Roman / Evelyn Grill. - St. Pölten : Residenz-Verl., 2011. - 316 S.
ISBN 978-3-7017-1566-4 fest geb. : ca. ? 22,90
Romane, Erzählungen und Novellen - Signatur: DR Grill - Buch