Die Geschichte hat für die Leserschaft den Vorteil, dass sie verlässlich weiß, wie es ausgehen muss, für die literarisch ambitionierten Autorinnen bringt es freilich den Nachteil, dass die Figuren in einem historischen Korsett geführt werden müssen. Edith Moroder versucht mit ihrem Südtiroler Familienroman, die Protagonistinnen im Sinne einer Chronik glaub- und wahrhaft darzustellen, gleichzeitig kriegen die Heldinnen genug Luft, um ihr individuelles Leben zu gestalten. Diese literarische Luft der "Bergtöchter" ist dann wahrscheinlich auch die einzige Freiheit, die die Frauen atmen dürfen, denn im historischen Ablauf haben sie wenig zu sagen, geschweige denn, dass sie in den Weltenlauf eingreifen könnten. Die Chronistin erzählt anhand von drei starken "Vorfahrinnen" die eigene Herkunftsgeschichte am Stammbaum zurück bis ins Jahr 1900. Als 1952-Geborene trägt diese Erzählerin sicher Züge der Autorin, weshalb auch die erzählten Figuren viel von den überlieferten Frauen haben dürften. Andererseits ist die Chronik durchaus als literarischer Roman aufzufassen, der sich erst in den Köpfen der Leserschaft zu den jeweils eigen-gedeuteten Wirklichkeiten manifestiert. Die Erzählstationen sind in den ersten drei Kapiteln den Frauen zugeordnet, die die jeweilige Epoche prägen. Rosa wacht mit einem ledigen Kind am Bauernhof jäh in einer brutalen Wirklichkeit auf und wird verstoßen. Der Vater des Kindes Burgl ist als Eisenbahner im Dienst tödlich verunglückt. Für Rosa heißt die Verheißung, mit dem Kind in den Süden zu gehen, aber es wird nichts draus, denn der Erste Weltkrieg zerstört alle Pläne. Burgl wird mit Gebeten und Mangelwirtschaft groß, sie heiratet einen Lehrer und bekommt unter widrigsten Umständen die Tochter Hildegard, aus der dann in den 1950er Jahren die Chronistin Edith hervorsprießt. Erst wenn man die Chronik gespreizt nacherzählt, merkt man, wie männlich Stammbäume andernorts immer erzählt werden und wie sie geradezu entlarvend wahr werden, wenn sie weiblich formuliert sind. Über den Heldinnen ist jeweils die Zeitgeschichte Südtirols gewölbt, hier entpuppt sich der Roman als angewandtes Lesebuch zur Zeitgeschichte. Die Ereignisse werden außerhalb des Wirkungskreises der Frauen gesteuert, ihnen bleibt letztlich nur das emotionale Zusammengehen mit einem Mann. Ihr Spielraum wird durch die jeweiligen Schwangerschaften um nichts größer. Im Gegenteil, durch die Kinder werden die Mütter erst richtig hilflos in der jeweiligen Zeitgeschichte einzementiert. Wenn sich die große Geschichte in Kriegen, Verblendungen, Optionen, Faschismen und Autonomien ausgesponnen hat, bleibt es an den Frauen hängen, die derangierten Männer wieder aufzurichten, sich selbst durchzuschlagen und dem Kind eine Perspektive aufzuzeigen. Als durchgehende pädagogische Maßnahme erweisen sich dabei Sprüche der frommen oder politischen Art, die die Mädchen durch die Jahrzehnte in allen Generationen über sich ergehen lassen müssen. Edith Moroder erzählt die Chronik unaufgeregt, behutsam und vorsichtig. Die Heldinnen werden geadelt, an manchen Stellen bricht offene Bewunderung aus. In historisierenden Romanen ist es äußerst schwer, Alternativen ins Hinterher zu erzählen. So entsteht allmählich der Eindruck einer großen, offiziösen Geschichtsschreibung, die die Vergangenheit der kleinen Leute ohne Blick hinter die Kulissen der Alternativen würdigt. Gleich auf der ersten Seite kommt der Eisenbahner zu Tode, während seine Geliebte das Mus rührt. Während wir über die Psyche des Muses alles erfahren, erfahren wir über die Gedanken des Eisenbahners nichts. Das ist so ein Beispiel dafür, wie im Zweifelsfalle das Mus erzählt wird und nicht der Todessprung eines Werktätigen in einen Masten. Helmuth Schönauer
Personen: Moroder, Edith
SL Moro
Moroder, Edith:
Bergtöchter / Edith Moroder. - Innsbruck [u.a.] : Haymon-Verl., 2015. - 367 S.
ISBN 978-3-7099-7182-6 fest geb. : 17,90
Schöne Literatur - Buch