Lessing, Doris May
Und wieder die Liebe
Buch

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Produktbeschreibungen
Neue Zürcher Zeitung
Späte Liebe - heimliche Hölle?
Doris Lessing: «Und wieder die Liebe»

Ein seltsam klingendes, vieldeutiges Wort ist es geworden: Liebe, jenes Wort, von dem früher alle wussten (oder doch mindestens zu wissen glaubten), was damit gemeint war, hat seine Selbstverständlichkeit verloren. Im Zeitalter der Singles haben sich die Beziehungen zwischen den Geschlechtern grundlegend verändert. Und im Bereich der Belletristik ist es zu einem eigentlichen Wagnis geworden, ohne ironische Brechung oder saloppe Direktheit über «Gefühle» zu schreiben. Jüngere Autorinnen und Autoren geniessen da den nicht unerheblichen Vorteil, dass sie geradewegs in die dieserart gewandelte Gefühlswelt hineingeboren wurden und somit bloss ihre eigene Befindlichkeit, womöglich überspitzt und sarkastisch, zu Papier zu bringen brauchen, um allein schon dafür Lob zu ernten: weil ihr grelles, in überschäumender Sprachlust und Derbheit gezeichnetes Sittenbild - angeblich - den Zustand unserer ebenso pluralistischen wie permissiven Gesellschaft anschaulich macht.

Nun gibt es aber - und auch dies gehört zum Pluralismus unserer Tage - Schreibende, die einer älteren Generation angehören. Auch sie leben im Jetzt, erfahren (und erzählen) es jedoch anders. Ihre Aussagen sind - meist nicht nur sprachlich - zurückhaltender und diskreter, deswegen aber keineswegs weniger gültig. Einen Beweis dafür liefert Doris Lessing in ihrem jüngsten Roman «Love, Again», der nun seit kurzem unter dem Titel «Und wieder die Liebe» auch in einer hervorragenden deutschen Übersetzung greifbar ist.

Homöopathische Dosierung

Auffällig an ihrem jetzigen, in unserer Gegenwart spielenden Liebes- und Leidenschaftsroman ist zunächst, mit welcher Offenheit und zugleich Ernsthaftigkeit die unverhofft wiederaufkeimenden Triebe und Gefühle der Hauptfigur dem Leser gleichsam in homöopathischer Dosierung verabreicht werden. Ungewöhnlich ist auch, dass die zum Teil ungestümen und für die Protagonistin sogar körperlich spürbaren Gemütsregungen nie richtig zum Ausbruch kommen, höchstens in ihrer phantasierend-begehrlichen Gedanken- und Traumwelt. Verborgen bleiben so den Mitmenschen die erstaunlichen Abgründe der Seele; was zur Folge hat, dass sie zur fälschlichen Annahme verleitet werden, die Begehren und Begierden der älteren Dame seien gänzlich erloschen.

Sarah Durham ist eine seit bald drei Jahrzehnten verwitwete Frau, die heute als Theaterleiterin und gleichzeitig Bühnenautorin tätig ist. Nach intensivem Studium der Tagebücher von Julie Vairon (einer charismatischen jungen Musikerin und Künstlerin aus Martinique, die als «free woman» vor nahezu hundert Jahren ihrer Zeit weit voraus war) hat Sarah soeben ein Stück geschrieben, das nun von ihrer erfolgreichen Truppe aufgeführt werden soll.

Die enge Verknüpfung zwischen Sarahs eigenem Leben und dem von ihr entdeckten «Stoff» bildet den Hauptstrang, den Doris Lessing so geschickt geflochten hat, dass die vielen anderen dazu gezwirnten Erzählfäden nicht nur für die Länge des Romans, sondern vor allem auch für seine Stärke verantwortlich sind. Zur intrikaten Mischung aus bekannten sowie bisher kaum vermuteten (jedoch wahrscheinlich zunehmend häufiger auftretenden) «Wechselfällen des Lebens» gehören auch Rückgriffe auf den Fundus der Weltliteratur. Besonders deutlich zutage tritt der Wandel sittlicher Verhaltensweisen aber in der Schilderung heutiger Lebens- und Umgangsformen, wobei - trotz auktorialem Erzählen - nie kritisiert, lamentiert oder gewertet würde. Es wird einfach registriert.

Verdeckte Aktualität

Dies gilt in erster Linie auch für die im Zentrum stehende Gefühlswelt der Protagonistin. In gepflegter Diktion und gedanklicher Tiefe führt Lessing den Leser in noch wenig bedachte Dimensionen der Liebe ein. Höchste Aktualität besitzt ohne Zweifel das landläufige Vorurteil vom geschlechtslosen Alter in unserer Gesellschaft. Da die Vorstellung, ältere Menschen hätten kein Bedürfnis nach Liebe und Leidenschaft mehr, völlig irrig ist, muss - so das implizite Plädoyer des Romans - dieses gesellschaftliche Tabu unbedingt bewusst gemacht beziehungsweise beseitigt werden.

Sarah Durham, die «femme d'un certain âge», verkörpert jenen Typus von Frau, die seelisch und körperlich an sich erfährt, was es heisst, sich noch einmal - nein, zweimal, und dies beinahe gleichzeitig - zu verlieben: zu «entflammen» für einen jungen Schauspieler sowie für den etwas älteren (verheirateten) Regisseur. Auslöser des plötzlich einsetzenden Wandels war die intensive Arbeit an «Julie Vairon», insbesondere die von dieser komponierte «verzaubernde» Musik, die sämtliche Saiten der Trieb- und Gefühlswelt in unkontrollierbare Schwingungen versetzte. Da wurde ein merkwürdiges Lebensgefühl evoziert: etwas, das bis in die Kindheit zurückreichte, etwas, das alte Wünsche, Sehnsüchte und Begierden zu neuem Leben erweckte. War die Liebe wirklich ein unverlierbarer Wert? War die innere Welt der Gefühle dem Alterungsprozess tatsächlich nicht unterworfen? Zumindest wollte es so scheinen. Nur, dass man mit fünfzig oder sechzig verschieden darüber dachte; und - obwohl man daran fast zugrunde ging - sich unentwegt bemühte, um jeden Preis eine «stiff upper lip» zu bewahren.

Dass es wahrscheinlich Millionen älterer Frauen gibt, die Qualen leiden, weil sie in hübsche junge Männer verliebt sind, sich jedoch darüber ausschweigen, davon ist Sarah Durham fest überzeugt. «Notgedrungen», sinniert sie sarkastisch. «Lieber Himmel, man stelle sich nur ein Altersheim mit Senioren vor, wie wir sie nennen, und die Hälfte von ihnen ist insgeheim verrückt nach dem jungen Kerl, der den Krankenwagen fährt, oder nach dem hübschen Mädchen in der Küche. Eine heimliche Hölle, bevölkert von den Gespenstern verlorener Geliebter . . .»

Düstere Erkenntnis

Was also wird geschehen, wenn dereinst auch dieses Tabu einmal fallen sollte? Wird das «Coming-out» der älteren Generation eine ebensolche gesellschaftliche Umwälzung mit sich bringen, wie es die noch immer wachsende Gefühlsverarmung der jüngeren Leute getan hat? Derlei Überlegungen und Bedenken sowie die anerzogenen inneren Hemmungen Sarahs verhindern, dass sie es jemals wagen würde, ganz sich selbst zu sein. Nie würde sie den ersten Schritt tun, so sehr sie dies auch möchte. Kommt dazu, dass sie dazu neigt, zu glauben, echte Liebe finde nie ihre wahre Bestimmung, weil das geliebte Wesen seine Liebe vordem schon auf eine andere Person gelenkt hat; und wird man selbst geliebt, dann durchweg von jemand, den man bestenfalls gut mag: «als ob es ein entsprechendes Gesetz dafür gäbe». Der Wahrheitsgehalt der düstern Erkenntnis, dass es deshalb kaum je ein wirkliches, dauerhaftes Liebesglück geben kann, wird vom weitverzweigten Handlungsverlauf der Geschichte in mannigfacher Weise untermauert.

Dass eine derartige Gemütsverfassung - vorab das Leiden an unerfüllter (Alters-)Liebe - mit der Zeit gezwungenermassen zu depressiven Zuständen führt, ist nicht weiter verwunderlich. Mit aller Deutlichkeit wird zudem vorgeführt, dass die Männerwelt von vergleichbaren seelischen Nöten nicht verschont bleibt. Sarahs Freund Stephen, ein wohlhabender Gutsbesitzer, der von allem Anfang an eine Art Gegenpart einnimmt, wird am Ende von seinen Frustrationen in schwere Depressionen gestürzt. Sein «gebrochenes Herz» treibt ihn schliesslich zum Selbstmord. Einzig die Frauen scheinen zu wissen, dass man «trotz allem» nicht aufgeben darf: Existenz muss ausgelitten werden - auch dann, wenn sich daraus kein (sichtbarer) Sinn ergibt.

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Personen: Lessing, Doris May

Standort: Romanraum

Schlagwörter: 4167616-6 Liebesbeziehung 4317743-8 Junger Mann

LES

Lessing, Doris May:
Und wieder die Liebe / Doris Lessing. Aus dem Engl. von Irene Rumler. - 3. Aufl., genehmigte Taschenbuchausg. - [München] : Goldmann, 1997. - 475 S.
Einheitssacht.: Love again
ISBN 978-3-442-72067-5 kt. : 8

Zugangsnummer: 2012/0553 - Barcode: 000000186636
Schöne Literatur - Buch