Kann man über den Holocaust für Grundschulkinder schreiben? Das fragte sich die Kinderbuchautorin Rose Lagercrantz, als sie vom schwedischen Rundfunk gebeten wurde, ein Märchen zum Jahrestag „75 Jahre Auschwitz“ zu verfassen. Im Nachwort des vorliegenden Buches sagt sie: „Ein Märchen? Das kann ich nicht, dachte ich. Der Nationalsozialismus ist kein Märchen. In Märchen passieren entsetzliche Dinge, aber sie enthalten oft auch etwas anderes: Liebe. Daran habe ich mich gehalten.“ Rose Lagercrantz hat eine berührende Geschichte über eine Kindheitsliebe geschrieben, die im Grundschulalter als Freundschaft beginnt. Eli erinnert sich an Lukinde, Luli genannt, und an das Leben in einer Stadt in Siebenbürgen, einer Stadt mit zwei Flüssen, zwei Hauptstraßen, zwei Friedhöfen: einem christlichen und einem jüdischen. Das jüdische Leben mit seinen Ritualen, Begriffen und Festen wie der Bar Mizwa wird zum Fundament der Kindergeschichte. Der Junge ist ein jüdisches Kind, ob das Mädchen auch jüdisch ist, spielt keine Rolle, denn: Die beiden sind Freunde. „Luli liebte es, Mama zuzugucken, wenn sie den Teig knetete und zu langen Rollen formte, die sie zu einem Zopf flocht. Zwei Freitagsbrote mussten es sein.’Warum das?’, fragte Luli. ‘Warum immer zwei von jedem?’ ‘Damit niemand allein ist’, sagte Mama, ‘nicht einmal das Brot.’“ „Zwei von jedem“ ist der Titel dieser beeindruckenden Erzählung, in der Rose Lagercrantz nah am Empfinden der Kinder und wahrhaftig bleibt, die junge Leserschaft fordert, aber nie überfordert. Sie konfrontiert vor allem die Kinder nicht mit Details der Gräueltaten, die sie nicht bewältigen könnten. So entsteht eine fiktionalisierte Lebensgeschichte, die sich doch in vielem an der eigenen Familiengeschichte von Rose Lagercrantz orientiert. Eli ist vaterlos, Luli lebt ohne Mutter, der Vater ist bereits nach New York ausgereist, er wird ihr bald das ersehnte Ticket schicken. Dazwischen Kinderalltag, Kinderleben. Es ist eine gute Welt, eine gute Kindheit, trotz der Verluste, die beide Kinder schon erlebt haben. Eine ganz normale Kindheit, so könnte man den ersten, umfangreicheren Teil der Geschichte übertiteln, der die emotionale Basis bereitet, begleitet von zarten Aquarellbildern, die den Alltag der Kinder spiegeln. Ganz normal ist alles, bis der Krieg näher rückt, die Judengesetze erlassen werden. In wenigen, faktenorientierten Absätzen folgen wir der Familie, dem Jungen, seinem Bruder und seiner Mutter, die zuerst das Radio und dann die Wohnung abgeben, den gelben Stern tragen müssen und schließlich zum Bahnhof gebracht werden. „Dort wurden wir in Viehwaggons eines Zuges getrieben, der uns durch Tag und Nacht fuhr, und wir wussten nicht, wohin. Schließlich hielt der Zug an, die Türen wurden aufgeschoben und Soldaten brüllten, dass wir aussteigen sollten ... Hier muss ich eine Pause machen.“ (S.?76) Eli kann das Erinnerte nicht aussprechen, Rose Lagercrantz gewährt ihm und den Lesenden diese Pause, ermöglicht es, sich auf das vorzubereiten, das erzählt werden muss, auch wenn man es kaum glauben kann. Der Zug hat das Tor von Auschwitz passiert, Eli ist mit seiner Familie im Todeslager angekommen. Er verliert dort seine Mutter, nicht aber den Bruder. Die Brüder werden später in ein Arbeitslager gebracht, danach nach Bergen-Belsen, wo Eli an Typhus erkrankt. Anne Frank und ihre Schwester starben dort an der gleichen Krankheit. Dem Tod nah, tritt er in inneren Dialog mit dem Mädchen Luli. Er wünscht sich, dass sie sich nach seinem Tod an ihn erinnert: „Sonst ist es, als hätte es mich nie gegeben.“ Das Lager wird rechtzeitig befreit. Eli und sein Bruder werden vom Roten Kreuz nach Schweden gebracht: „Ich war jetzt ein Überlebender“, erinnert er sich. (S.?82) Rose Lagercrantz erzählt von einer Kindheit, in der Faschismus und Antisemitismus von einem Tag auf den nächsten das Leben aus den Angeln heben. Sie erzählt von der Liebe und vom Leid und verweist auf die Wichtigkeit, die Toten zu erinnern. Im letzten Teil folgt Elis Lebensgeschichte: Als junge Erwachsene wird Luli Eli ausfindig machen. Sie werden sich in New York wiederbegegnen, sich an gemeinsame Kindheitsmomente erinnern. Sie werden sich verlieben, heiraten, eine Bäckerei eröffnen, Kinder haben und nach den Rezepten von Elis Mutter die besten Strudel der Stadt backen, immer mindestens zwei von jedem. Antisemitismus beginnt wie jede Art von Rassismus im Alltäglichen, im Wort, in der kleinen Handlung, in der Unterlassung. Es kann nicht zu früh sein, Grundschulkindern davon zu erzählen, wie ein Junge und ein Mädchen ein normales Leben lebten, bis die Juden diskriminiert, schließlich deportiert wurden, wie ein Junge seine liebsten Menschen durch Hass und Willkür verlor, beinah auch sein eigenes Leben. Eli erinnert sich: „Ich verstand nicht, wie die Menschen dachten, die jetzt an der Macht waren. […] Heute ist mir klar, was sie im Sinn hatten. Wir sollten nicht länger leben. Aber es dauerte, bis ich das begriff.“ Davon erzählt Rose Lagercrantz in klaren, kindgerechten Sätzen. Sie findet die richtigen Worte und die richtigen Pausen für Unsagbares, setzt den Schwerpunkt auf die „ganz normale Kindheit“, in der es keine Unterschiede zwischen den Menschen gibt. Die Mutter von Rose Lagercrantz hat wie Eli die Lager überlebt und kam nach Schweden, verliebte sich dort, blieb. Sie ist wie der Junge Eli eine Überlebende. Was für ein Glück, denn sie schenkte uns eine der großartigsten Kinderbuchautorinnen und somit diese Geschichte. Kann man über den Holocaust für Grundschulkinder schreiben? Man kann! Wenn man Rose Lagercrantz heißt! *ag* Ute Wegmann
Personen: Lagercrantz, Rose Lagercrantz, Rebecka
Lage
Lagercrantz, Rose:
Zwei von jedem / Rose Lagercrantz ; Rebecka Lagercrantz. - Frankfurt a. M. : Moritz, 2021. - 115 S.
ISBN 978-3-89565-419-0 Festeinband : L
Kinderbücher (erstes Lesealter) - Buch