Die traumatischen Erfahrungen einer jungen Tschechin bestätigen die nach wie vor bestehenden Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern sowie die unsichtbare Trennlinie zwischen West- und Osteuropa. (DR) Adina möchte etwas von der Welt sehen. Die junge Tschechin bricht nach Berlin auf, wo sie zunächst einen Deutschkurs belegt. Sie wird von der charismatischen Fotografin Rickie entdeckt, die eine Fotoserie von ihr macht und sie in ihren feministischen Freundinnenkreis einführt. Adina fühlt sich fremd, doch die Diskussionen der Szene machen starken Eindruck auf sie. Rickie vermittelt ihr schließlich eine Stelle als Praktikantin in der Uckermark. Dort versucht ein Unternehmer, ein altes Gutshaus in ein Kulturzentrum zu verwandeln. Adina wird als Übersetzerin für osteuropäische Besucher und als Bürokraft gebraucht. Zusammen mit ihren Kolleginnen teilt sie sich eine schäbige Unterkunft. Als ihr Arbeitgeber einen einflussreichen deutschen „Multiplikator“ einlädt, von dem er sich viel erhofft, wird es für Adina gefährlich. Der Mann verfolgt sie mit seinen Annäherungsversuchen, vergewaltigt sie und bringt sie fast um. Traumatisiert und ohne Geld schlägt sie sich nach Finnland durch, wo sie einen Job als Kellnerin annimmt. Sie lernt den estnischen Professor und EU-Abgeordneten Leonides kennen, dessen behutsame Zuneigung sie langsam wieder zu sich kommen lässt. Damit ist es allerdings vorbei, als sie Leonides zu einem Empfang begleitet und im Publikum ihren Peiniger entdeckt. Sie hofft, mit Hilfe einer Menschenrechtsaktivistin den Vergewaltiger vor Gericht zu bringen. Doch ohne Beweise sind die Chancen dafür gleich null. Da fasst Adina einen folgenschweren Entschluss. In dem Text "Blaue Frau" wird die Geschichte der jungen Tschechin in den Kontext des Machtgefälles in der Europäischen Union gestellt. Osteuropäer, besonders Osteuropäerinnen, werden auch drei Jahrzehnte nach dem Zerfall der Sowjetunion diskriminiert. Einflussreiche Männer, ob sie nun aus West- oder Osteuropa kommen, nützen ihre Positionen, um Frauen benutzen zu können. Obwohl die Autorin eindeutig Stellung bezieht, schildert sie differenziert und absolut überzeugend Lebensgefühl und soziale Wirklichkeit in der Europäischen Union. Am meisten beeindruckt allerdings die Meisterschaft der Autorin in der Figurenzeichnung. Sie lässt ihren Personen Raum, anstatt eindeutige Charaktere zu präsentieren. Vor allem Adina, diese androgyne, etwas verschlossene, aber auch neugierige und zärtliche junge Frau, hinterlässt nach der Lektüre einen nachhaltigen Eindruck. Es tut richtig weh, mitzuerleben, wie brutal ihre Erwartungen zerstört werden. Die Jury für den Deutschen Buchpreis hat mit Antje Rávik Strubel eine überzeugende Preisträgerin gekürt.
Personen: Strubel, Antje Rávik
DR.G
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Strubel, Antje Rávik:
Blaue Frau : Roman / Antje Rávik Strubel. - Frankfurt am Main : S. Fischer, 2021. - 428 Seiten
ISBN 978-3-10-397101-9 Festeinband : EUR 24,70 (AT)
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