Poiarkov, Rosemarie
Aussichten sind überschätzt ; Roman
Romane, Erzählungen

Auf den alten Postkarten und mittlerweile im Netz gibt es diese Kurznachrichten, wo ein komplizierter Zustand auf einen Kurzsatz zusammengestutzt wird. "Aussichten sind überschätzt!" Rosemarie Poiarkov überschreibt einen ganzen Roman mit dieser Kurznachricht, dabei geht es um ein komplexes Gebilde an Beziehungen, Freundschaften, Alltagsstrategien und um den fast verfassungsmäßigen Wunsch, eines Tages vielleicht glücklich zu sein. Luise arbeitet in prekären Unterrichtsverhältnissen an der Sprachvermittlung für Randgruppen, es ist simpel ein schlechter Frauenberuf (210), den sie sich antun muss. Ihr Lebensgefährte Emil ist ein Ton-Archivar, der beispielsweise von einem Urlaub Tonaufzeichnungen zurückbringt wie andere Fotos. Wie in einem Kammerstück ist Luise von diversen Verknüpfungen umgeben, die das Spektrum gesellschaftstauglicher Gefühle abdecken. Eine Freundin pflegt deren alkoholkranke Mutter, ein Freund schmachtet nach der Geliebten in Novi Sad. Als Luise auf einen Kongress nach Mexiko fliegt, bringt sie von dort eine alte Tonwalze mit, die zu Hause Furore macht. Alle wollen plötzlich wissen, was auf diesem historischen Unikat aus dem Jahre 1903 drauf ist, zumal bald klar ist, dass es sich um eine Zufallsaufnahme aus der Praterstraße handelt. In einer Welt, die vollkommen von Bildern überschwemmt ist, weiß niemand so recht mit Tönen und Geräuschen umzugehen. Hobbyforscher, Tonkünstler und Heimatkundler stehen bald vor dem Phänomen, dass auf dem Tonzylinder jemand so unverschämt lacht, wie man um diese Zeit nicht lachen darf. Der Sohn der Freundin erkennt das Problem als erster, diese Walze ist langweilig. (179) Freilich bleiben ein paar Wörter aus der Vergangenheit übrig: "Praterstraße, 1903, blutig, uggl, faschen, Schnee, fahre ich, Schwestern." (127) In einem Krimi müssten jetzt mit starken Geisteskurven die Wörter dechiffriert werden, in der sogenannten Wirklichkeit kann es passieren, dass man am Ende ist. Auch Kleinigkeiten lassen sich historisch zwischendurch nicht auflösen, vom Großen gar nicht zu reden. Im Roman geht es ja auch um die Methoden, die Welt zu entdecken und an ihre Enden zu gelangen. Die einzelnen Kapitel liefern dabei Mustersätze der Erkenntnis. Die Welt ist blau wie eine Orange | Die Alte Donau ist kein Fluss | Die Geräusche der Anderen | Auf dem Berg sieht man den Berg nicht | Wer die Ferne nicht schätzt, ist in der Nähe nicht zu gebrauchen. Tatsächlich löst sich alles in Gewöhnlichkeit auf, die zwischendurch verschwundene Walze taucht beim Sohn auf, der sich langweilt, der Heimat-forschende Vater findet Sachen, die er schon kennt, die alkoholkranke Mutter der Freundin stirbt und ist verblüfft, dass sie eingegraben wird statt als Asche verstreut. Und das schmachtende Liebespaar lernt mit der zeit, ohne Hormone auszukommen. Die Aussichten sind überschätzt, die Helden fügen sich allmählich an diese lapidare Erkenntnis. Und der Roman gebiert sich wie ein ironischer Bildungsroman, bei dem am Schluss alle gleich klug sind wie zuvor. Helmuth Schönauer


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Personen: Poiarkov, Rosemarie

Poiarkov, Rosemarie:
Aussichten sind überschätzt : ; Roman / Rosemarie Poiarkov. - Salzburg ; Wien : Residenz-Verl., 2017. - 271 S.
ISBN 978-3-7017-1677-7 fest geb. : ca. Eur 22,00

Zugangsnummer: 0014630001 - Barcode: 2-0000000-8-00093527-2
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