Historische Romane benützen oft nur minimale Erzähl-Stäbchen, um den Leser sauber mit dem fetten Stoff in Verbindung zu bringen und eine generelle Verdauung auszulösen. Anna Kim wählt eine Erzählerin, die im Europa der Gegenwart adoptiert und verortet ist und erstmals nach Korea fährt, von wo aus sie als Kind fortgetragen worden ist. Die Erzählerin der Gegenwart trifft auf den alten Yunhoo, der in die 1950er und 1960er Jahre zurückblendet, wo sich das Wesen Koreas maßgeblich verändert hat. Wir europäischen Leser sind zwar täglich auf der Straße und im Netz mit südkoreanischer Hardware unterwegs, wissen von den Bewohnern aber nur, dass sie ein anstrengendes Bildungssystem haben, das gerne im Suizid endet. Die Nachkriegszeit hinterlässt sowohl im Norden als auch im Süden eine völlig zerrüttete Bevölkerung, deren Individuen sich einen persönlichen Reim auf das Desaster machen müssen. Der erzählende Yunhoo ist damals mit Eve und ihrem Geliebte Johnny verbunden, alle drei versuchen, die politischen Ereignisse zu überleben. Denn Johnny wird der Spionage für Nordkorea bezichtigt, Eve hat ständig ein Verhältnis mit irgendeinem GI und Yunhoo versucht, auf den Bildungsboom aufzuspringen, der in Südkorea ausgerufen wird. Die Alltagsarbeiten der drei sind mannigfaltig, einmal müssen sie Wahlzettel fälschen und bekommen nach der Anzahl der gefälschten Stimmen bezahlt. "Der Geschmack des Fleisches kommt beim Kauen, der Geschmack der Worte beim Sprechen." (222) Mit solchen Parolen versuchen sie, der Südkoreanischen Diktatur einen Sinn abzuknöpfen. Aber es hilft alles nichts, die drei müssen nach Japan fliehen, von wo aus sie dann ihr Leben einzuordnen gedenken. Ständig dröhnen die Werbetrommeln für die "große Heimkehr", womit Nordkorea verlorene Söhne und Töchter anzulocken versucht. Manch einer erliegt diesem Angebot und verschwindet für immer. Den Überlebenden bleibt ein bescheidenes Angebot: "Ich lebe ein Leben, das nicht mir gehört, sondern jenen, die es mir ermöglichen." (360) Und während der ganzen Erzählung läuft ein Stück Vinyl, auf dem "Solitude" gepresst ist, ein Sound für alle Zeiten. In dieser Geschichte kennen sich am Schluss nicht einmal mehr die Betroffenen selbst aus. Der Erzählerin der Rahmenhandlung ist das ganz recht, hat man den Eindruck, sie ist beim Zuhören verstummt wie die Leser, die diesem koreanischen Chaos nichts entgegenhalten können als ein bisschen Zeitgeschichte und das Gefühl, von allem nichts zu verstehen. - Eine fast magische Einladung, sich mit Korea zu beschäftigen, und eine aufregende Form, Zeitgeschichte vor der Archivierung abzupassen und noch einmal richtig abzuklopfen. Helmuth Schönauer
Personen: Kim, Anna
Kim, Anna:
¬Die¬ große Heimkehr : ; Roman / Anna Kim. - Berlin : Suhrkamp, 2017. - 558 S. : Ill., Kt.
ISBN 978-3-518-42545-9 fest geb. : ca. Eur 24,70
Romane, Erzählungen und Novellen - Signatur: DR KIM - Romane, Erzählungen