Im Märchen liegt die Prinzessin mit Eigenwillen auf der Erbse, und scannt mit dem Hintern die Unebenheiten ab. Wenn hingegen eine selbstbewusste Frau der Gegenwart die Unebenheiten der Gesellschaft mit offenen Sinnesorganen scannt, wird ihr das als "Erbsenzählerei" ausgelegt. Gertraud Klemm schickt die Heldin Annika in das Zwischenreich der Gesellschaftsschichten. Die dreißigjährige Icherzählerin lebt gerade mit dem humanistisch gebildeten alten Sack Alfred und dessen Sohn Elias lose zusammen. Sie begleitet diesen Elias auf den Fußballplatz und merkt, dass alles außer dem Ball unrund ist. Sie selbst wird als Stieftussi angesprochen und hat außer Transportdienste nichts beim Kind verloren. In zehn Kapiteln wird das Schicksal von Annika ausgerollt, sie hat im Gesundheitswesen die Arbeit an fremden Körpern aufgegeben, um Kunstgeschichte zu studieren. Freilich kellnert sie jetzt schon seit Jahren im Lokal Namenlos und wird von ihrem Partner in die Bobo-Szene Wiens eingeführt. Die Schicksale sind wie aus dem Fernsehen, alle leben im Patchwork, überall halten sich gebildete 68er junge Frauen und zeugen späte Kinder, alles ist durchdrungen von Markennamen und Branding des Alltags. Zwischen den Generationen hat sich eine Ölschicht gebildet, an der die einzelnen Jahrgänge entlanggleiten ohne sich zu berühren. Geradezu aggressiv wird die Heldin, wenn sie an diese Kinder denkt, die in den Nuller-Jahren mit den Symptomen der Generation Z auf die Welt gekommen sind, "elektroniksüchtig, konsumgeil, eitel und kapriziös". (51) Aber auch die Alten mit ihrer Literatur am Schloss und der Musik in den regionalen Prunksälen sind nicht zum Aushalten, wenn sie mit der Ausrede jeglichen Anstand verlieren, es sei eben Literaturbetrieb und die Geilheit stecke zwischen Juror und "Prosapuppen mit spitzen Brüsten". "Die Frau ist immer die Gefickte" hat ihr früherer Freund einmal gesagt, und der jetzige hält ihr vor, sie wolle mit den Gefühlen Erbsenzählen. Die Heldin kontert mit einem straffen Sexualprogramm, wonach sie keinen Orgasmus mehr vorspielt, denn der Mann hat sich diesen hart zu erarbeiten. Zu Weihnachten eskaliert dann die gegenseitig ansteckende Unverbindlichkeit (157). Nach einer Affäre mit dem Lokalbesitzer gibt es einen Terroranschlag und alle twittern, je suis Namenlos. Ein Besuch zu Hause am Land zeigt, dass diese vertrocknete Idylle in der Fläche auch keinen Halt gibt. Und wieder in der Stadt sieht sie, wie ihr Alfred mit der üblichen Masche sich an die nächste heranmacht. Gertraud Klemm seziert die biedere Szene der Bobos mit Sarkasmus und hat ganz schön zu tun, dass dabei nicht die Heldin kaputt wird. Die Welt ist in Unverbindlichkeit aus den Fugen geraten, niemand nimmt mehr etwas wörtlich, alles ist möglich, Genauigkeit und Sorgsamkeit gelten als uncool. Um aus dieser Soße von Konsum und Fake-Nachrichten herauszukommen, muss man die Dinge wieder beim Namen nennen. Vielleicht ist Erbsenzählen die Grundvoraussetzung für ein genau beobachtetes Leben. Helmuth Schönauer
Personen: Klemm, Gertraud
Klemm, Gertraud:
Erbsenzählen : ; Roman / Gertraud Klemm. - Graz : Droschl, 2017. - 160 S.
ISBN 978-3990590065 fest geb. : ca. Eur 19,00
Romane, Erzählungen und Novellen - Signatur: DR KLE - Romane, Erzählungen