Eine radikale Streitschrift gegen die Autogesellschaft
Vor wohl zwei Jahrzehnten traf ich Ivan Illich (1926-2002) in einer Wohngemeinschaft im Frankfurter Nordend. Wir hatten lange diskutiert. In zwei Stunden ging sein Zug nach Bremen. Nein, nein, er könne allein hin. Er würde zu Fuß gehen. Ich sagte ihm, ich müsste auch zum Hauptbahnhof und würde, wenn er es gestattete, ihn begleiten. Ich war diese Strecke noch nie zu Fuß gegangen. Außerhalb von Wandertagen hatte ich noch nie eine solche Entfernung zu Fuß zurückgelegt. Illich legte ein beeindruckendes Tempo vor. Ich war beruhigt, als er nach zehn Minuten fragte, ob es denn noch weit sei. Wir hatten vielleicht ein Drittel oder auch nur ein Viertel des Weges hinter uns gebracht. Illich wurde langsamer. Als wir an einem Taxistand vorbeikamen, schlug ich ihm vor, für den Rest ein Taxi zu nehmen. Er lehnte ab. Als wir endlich am Bahnhof ankamen, war Illich außer Puste und nass geschwitzt. Ich hütete mich, etwas zu sagen. Wir verabschiedeten uns artig von einander und ich wurde zum engagierten Anti-Fußgänger. Hermann Knoflacher bringt mich da arg aus dem Konzept. Er tut das mit der gleichen freidenkerischen Radikalität, die Ivan Illich hatte, frei von jeder Verbissenheit, mit viel Witz und mitreißender Verve. Knoflacher zitiert einen Autofahrer, der nach einem Überschlag und einer 300 Meter langen Rutschfahrt auf dem Autodach durch einen Bahndurchlass hindurch auf einem Acker landete: äIch habe die Kontrolle über mein Fahrzeug nicht verloren, weil ich die ganze Zeit das Lenkrad fest in der Hand hielt.ô Die Illusion, wie hielten die Geräte fest, während wir uns in Wahrheit an ihnen fest halten, ist so übermächtig, dass wir auch noch den letzten Fetzen Verstand verlieren. Hier kommt natürlich der Singular besonders schön hinzu. Er hielt das Lenkrad äfest in der Handô. Ein sportlicher Fahrer, der für einen Augenblick den linken Ellenbogen mal nicht lässig zum Fenster hinausstreckte. Gegen diesen Wahn wehrte sich Ivan Illich, gegen diesen Wahn zog er außer Puste geratend und schwitzend zu Felde. Ein Pionier. Knoflacher geht es um alle Arten von Mobilität und um ihren Zusammenhang. Wer geht, statt sich gehen zu lassen, der nimmt die Welt anders wahr, der verarbeitet seine Wahrnehmungen anders, der verdaut nicht nur, der denkt auch besser. So plakativ drücke ich das hier auf drei Zeilen zusammen. Knoflacher sagt uns das nicht. Er zeigt es uns. Er führt es uns vor. Man lese zum Beispiel, was er schreibt über die Wege, die wir zu unseren Arbeitsplätzen zurücklegen. Wir haben, so argumentiert er, durch das Auto, was das angeht, wenig gewonnen. Solange es kein Auto gab, mussten die Arbeitsplätze auf Fußweg-Entfernung sein. Seit es das Auto gibt, muss der Arbeitgeber darauf keine Rücksicht mehr nehmen. Im Ruhrgebiet zum Beispiel liegen die Wohnhäuser noch immer um die längst stillgelegten Zechen. Wir brauchen heute mit dem Auto oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln eher länger zur Arbeit als man früher unterwegs war. Das Auto hat unsere Gesellschaft revolutioniert. Es beherrscht sie inzwischen. Knoflacher ist ein Autogegner. Nicht nur aus persönlicher Wanderlust, sondern auf Grund sehr grundsätzlicher Erwägungen glaubt er, der erste Schritt zu einer wirklichen Verbesserung der Verhältnisse sei die Abschaffung oder doch wenigstens die spürbare Einschränkung der Automobilität. Wir haben das schon lange nicht mehr mit dieser Radikalität gehört. Wer spricht noch vom Umbau, vom Rückbau gar? Knoflacher aber schreibt: äDie Erdoberfläche ist ein nicht vermehrbares Gut und zwingt uns, da wir von ihr abhängig sind, zu einem sparsamen Umgang mit ihr. Der Flächenaufwand für Automobilität liegt um das Zehn- bis Hundertfache über dem für Fußgänger, Rad und öffentlichen Verkehr. Da jeder Verkehrsträger die gleichen Funktionen zu erfüllen hat, gibt es keinen Grund für eine Ungleichbehandlung. Dem Auto sind daher mindestens neun Zehntel der von ihm besetzten Flächen zu entziehen.ô Der erste Satz ist natürlich falsch, dennoch wird er durch die drei, vier Highways, die in Moskau, Shanghai und ich weiß nicht wo noch über einander fahren, ihn also zu widerlegen scheinen, doch eher bestätigt. Falls Knoflacher auch nur zu zehn Prozent Recht hätte, wäre unsere Lage aussichtslos. Wie soll die Automobilität zurückgefahren werde? Die einzige Hoffnung ist der Heimcomputer. Der macht uns aber noch immobiler! [http://www.berliner-zeitung.de]
Personen: Knoflacher, Hermann
B-VE32-Kno
Knoflacher, Hermann:
Zurück zur Mobilität : Anstöße zum Umdenken / Hermann Knoflacher. - 1. Auflage. - Wien : Ueberreuter, 2013. - 111 S.
ISBN 978-3-8000-7557-7 : 25,00 EUR
Verkehrsplanung: Mobilität, Verkehrsverhalten - Buch