Duve, Karen
Fräulein Nettes kurzer Sommer Roman
Buch

Eine junge Dichterin, die sich nicht anpassen kann. Eine Welt im Umbruch. Und eine fatale Verstrickung der Gefühle. Fräulein Nette ist eine Nervensäge! Dreiundzwanzig Jahre alt, heftig, störrisch und vorlaut, ist sie das schwarze Schaf, das nicht in die Herde ihrer adligen Verwandten passen will. Das Schlimmste ist ihre scharfe Zunge. Wenn die Künstlerfreunde ihres Onkels August nach Bökerhof kommen, über Kunst und Politik sprechen, mischt sie sich ungefragt ein. Wilhelm Grimm bekommt bereits Panik, wenn er sie nur sieht. Ein Enfant terrible ist sie, wohl aber nicht für alle. Heinrich Straube, genialischer Mittelpunkt der Göttinger Poetengilde, fühlt sich jedenfalls sehr hingezogen zu der Nichte seines besten Freundes. Allerdings ist er nicht der einzige. Was folgt ist eine Liebeskatastrophe mit familiärem Flächenbrand.


Rezension

Wer einmal zurückblicken und vielen bekannten Gestalten des frühen 19. Jahrhunderts begegnen möchte, der sollte sich in das Buch vertiefen. Mit dem wunderlich anrührenden Familien- und Sittengemälde, das uns in diese nach-napoleonische Zeit blicken lässt, gilt es, sich Karen Duve anzuschließen und Nettes kurzem, aufregendem Sommer mit Zeit und Muße nachzuspüren.
Durch und über die ungemein agile, impulsive und vielseitig interessierte, nicht der Zeit angepasste und hochgradig kurzsichtige Annette Droste-Hülshoff, einem Freifräulein, erfahren wir Erstaunliches: Ihre Kutschfahrten auf den holprigen Straßen des heimatlichen Westfalen führen zu Nasenbluten, adlige Frauen dürfen nur sticken, aber neben dem Junker studiert nun auch der Bürgersohn in Göttingen - dennoch bleiben die Standesunterschiede zementiert. Große Güter brauchen Erben. Stirbt eine Adlige etwa bei der Geburt eines Kindes, kommt es schnell zur erneuten Eheschließung des Witwers. Infolge der stetig wachsenden Verwandtschaft bedarf es eines großen zeitlichen und logistischen Aufwands, um den oft lästigen und verpflichtenden Besuchsregularien mit der Kutsche zu genügen - dies in der letzten Phase der seit dem 15. Jahrhundert währenden kleinen Eiszeit mit unendlich viel Regen.
Erstaunlicherweise ging der Adel diesem Phänomen bereits nach. Könnten Sonnenflecken etwas damit zu tun haben? Mythologie und Spiritismus, Hausgeister und Althochdeutsches, Poesie und Prosa beschäftigen die jungen Leute; es werden Märchen, Sagen und alte Lieder gesammelt - vor allem natürlich für die Brüder Grimm. Wem ist gegenwärtig, dass Jakob und Wilhelm Grimm noch drei Brüder und eine Schwester hatten, die einander eng verbunden waren und in diesem Sommer nahezu Teil von Annettes Leben gewesen zu sein scheinen. Und mittendrin entwickelt sich Annettes unglückliche - da nicht standesgemäße - Liebe zu Heinrich Straube, einem armen, überaus kauzigen bürgerlichen Studenten. Annettes studierender junger Onkel August lädt ihn wie viele andere häufig auf den väterlichen Bökerberg ein. Überdies hören wir von Heinrich Heine, der damals noch Harry Heine hieß, von Hoffmann, der sich dann Hoffmann von Fallersleben nannte, es ist die Rede von Kotzebue und seinem Mörder Sand oder von Friedrich Gaus, dem unzuverlässigen Brentano und ein bisschen vom alten Goethe. Ein kleines zeitgeschichtliches, höchst informatives Kaleidoskop.
Die Autorin hat dem Roman einen erhellenden Epilog angefügt, der auf das weitere Leben der Protagonisten blickt - besonders natürlich auf das kurze der Annette von Droste-Hülshoff, das in Meersburg am Bodensee endete.

Rezensent: EG


Weiterführende Informationen


Personen: Duve, Karen

Schlagwörter: Droste-Hülshoff, Annette von

Interessenkreis: Rezensierte Titel

Duve

Duve, Karen:
Fräulein Nettes kurzer Sommer : Roman / Karen Duve. - 1. Auflage. - Köln : Kiepenheuer & Witsch, 2020. - 580 Seiten : 1 Diagramm, 1 Karte
ISBN 978-3-462-05418-7

Zugangsnummer: 2020/0067
Romane - Buch