>> Menschsein; Frauen; Beschneidung; Sexueller Missbrauch; Migration;
Dokumentarfilm, 29 Min.
Deutschland 2001
Buch/Regie: Renate Bernhard und Sigrid Dethloff
Kamera: Elena Kurze, Ali Hedjrat
Schnitt: Sylvana Motzko
Redaktion: Susanne Sturm
Produktion: CouRage Film (Sigrid Dethloff, Renate
Bernhard) im Auftrag des MDR
Kurzcharakteristik
"Sie kann nicht laufen. Sie kann nicht sitzen. Sie hat
immer Probleme. Sie muss immer auf die Toilette.
Sie hat so viele Schmerzen." Eine 18-jährige Sudanesin
beschreibt verzweifelt die Leiden ihrer Mutter.
Nur durch Flucht konnten die Eltern bisher verhindern,
dass auch die Tochter beschnitten wird.
Aber wie lange wird ihnen das noch gelingen? Der
Zuschauer erfährt, dass Deutschland für solche
Flüchtlinge kein Asylrecht vorsieht. Die Angst vor
Abschiebung begleitet nahezu alle, die - in der Sprache
der Politiker - "nichtstaatlicher oder geschlechtsspezifischer"
Verfolgung ausgesetzt sind.
Der Film zeigt vier Fallbeispiele. Er beschreibt, was
Beschneidung bzw. Genitalverstümmelung für
Mädchen und Frauen bedeutet. Er zeigt koptische
Christinnen wie Muslima und macht deutlich, dass
weibliche Genitalverstümmelung älter ist als die
Weltreligionen. Er verdeutlicht, wie die z.T. jahrtausendealten
Beschneidungsrituale letztlich auf die Ur-
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Narben, die keiner sieht
Beschnittene Frauen in Deutschland
angst des Mannes vor dem Fremdgehen der Frau
zurückgehen und wie die Frauen sich dem unterworfen
haben: Mythen und Legenden wurden geschaffen,
welche die Beschneidung verklären und besonders in
Bevölkerungsschichten mit hoher Analphabetenrate
den Glauben untermauern, es handele sich hierbei um
eine religiöse Pflicht. Im Film kommen außer den betroffenen
Frauen auch eine Frauenärztin, eine Mitarbeiterin
von Amnesty International und ein Rechtsanwalt
zu Wort.
Einsatzmöglichkeiten
Schule:
Der Film lässt sich einsetzen in den Fächern Politik,
Sozialkunde, Religion, Ethik. Aufgrund der Komplexität
des Problembereiches und der sexuellen Bezüge
sollte das Thema mit Schüler(inne)n ab 16 beziehungsweise
in der gymnasialen Oberstufe behandelt
werden. Der Stoff bietet sich an für eine Aufarbeitung
im Bereich "Globales Lernen".
Die Flucht von Menschen aufgrund geschlechtsspezifischer
Verfolgung berührt auch Deutschland.
Schüler(innen) werden somit im Laufe ihres Lebens
immer wieder mit globalen Schlüsselproblemen konfrontiert
werden. "Globales Lernen" kann das Bewusstsein
der Schüler(innen) für die weltweite Vernetzung
und Verantwortung wecken. Es kann dazu
beitragen, beim politischen Denken und Handeln die
nationalstaatliche bzw. eurozentrische Sicht zu verlassen
und auch dem Rest der Welt Beachtung zu
schenken.
Genitalverstümmelung an Mädchen und Frauen ist
ein kulturelles Phänomen, das viele Wurzeln hat und
zur Thematik der weltweiten Migrationsbewegungen
gehört. Diese zu verstehen, sollte vorrangiges
Unterrichtsziel sein, um Verantwortungsgefühl und
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Verständnis gegenüber asylsuchenden Menschen zu
stärken, ihnen ein Gesicht und eine Geschichte zu geben.
Außerschulische Jugendarbeit:
Darüber hinaus eignet sich der Film für die außerschulische
Jugendarbeit mit Betroffenen, Betreuern
von Betroffenen (Ärzte, gynäkologisches Pflegepersonal,
Sozialarbeiter, Lehrer, Erzieher, Rechtsanwälte,
Richter) und mit Multiplikatoren.
Erwachsenenbildung:
Weitere Einsatzfelder sind die feministische Bildungsarbeit
und alle Themenbereiche zur Beziehung
Mann/Frau.
Inhalt
Gihad ist Sudanesin und wohnt seit 13 Jahren in Berlin.
Sie ist eine von 20 000 in Deutschland lebenden
Afrikanerinnen, die in ihrer Kindheit beschnitten
wurden. Bei Gihad war es eine Infibulation oder
pharaonische Beschneidung, die schwerste Form der
Verstümmelung, mit Zunähen. Seit zwei Jahren ist
Gihad nun mit Mohammed verheiratet. Entgegen
dem afrikanischen Tabu, über dieses Thema zu sprechen,
haben sich die beiden kritisch mit den Konsequenzen
dieser Tradition auseinandergesetzt. Geholfen
hat ihnen dabei Dr. Sabine Müller, eine
Gynäkologin des Familienberatungszentrums Balance,
die sich auf die Probleme beschnittener Frauen
spezialisiert hat. Um drohende Komplikationen bei
einer möglichen Geburt abzuwenden, erwägt Gihad
nun, sich einer Öffnungsoperation zu unterziehen.
Doch obwohl sie sich klar ist über alle medizinischen
Vorteile, die dieser Eingriff hätte, hat sie diffuse
Ängste und verschiebt ihn immer wieder.
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Eine weitere Patientin im Berliner Familienberatungszentrum
ist eine Mutter von vier Kindern. Auch
sie ist Sudanesin und von der Infibulation schwer gezeichnet.
Bei jeder Geburt wurde sie aufgeschnitten
und wieder zugenäht, bekam in der Folge Abszesse,
wurde deshalb neunmal operiert und leidet nun an
dauerhaften Schmerzen, die ihr langes Sitzen unmöglich
machen. Aus Angst und Scham will sie anonym
bleiben. Sie lebt mit ihrem Mann und vier Kindern
seit sieben Jahren in der Ungewissheit drohender
Abschiebung in zwei bescheidenen Zimmern eines
Asylsuchenden-Heims. Einem Abschiebungsversuch
entkam sie nur durch den massiven Protest eines
Pfarrers, der die Familie aus dem schon wartenden
Flugzeug rettete. Bislang hat es die Familie geschafft,
ihre Töchter vor der Beschneidung zu bewahren. Bei
einer Abschiebung wäre nicht garantiert, ob sie das
auch weiter schaffen.
Vom wachsenden Bewusstsein um die Schädlichkeit
der Beschneidung zeugt eine Ausstellung nigerianischer
Künstler, die in eindringlichen Bildern dem
deutschen Publikum die Qualen der Beschneidung
nahe bringen. Die Organisation Forward Germany
lässt sie durch Deutschland touren.
Auch bei Amnesty International engagiert man sich
gegen weibliche Genitalverstümmelung. Amnesty-
Mitarbeiterin Gaby Mersch hat Rigbe, eine 15-jährige
Äthiopierin, als Mündel angenommen. Rigbe war vor
ihrer Großmutter geflohen. Als sie erfuhr, dass diese
ihr Beschneidungsfest vorbereitete, floh sie nach
Deutschland und suchte bei ihrer hier lebenden Cousine
Unterschlupf. Seit drei Jahren lebt Rigbe nun in
der Schwebe eines unentschiedenen Verfahrens um
ihr Bleiberecht.
Fanta ist vier Jahre alt. Ihre Mutter Wata stammt aus
Guinea und kam mit ihr nach Deutschland, als sie
schwanger war. Seit Fantas Geburt kämpft die junge
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Frau darum, hier bleiben zu können. Sie will Fanta
die Beschneidung ersparen, die sie selbst als Neunjährige
erlebte und die in ihrem Fall auch noch verbunden
war mit brutalen nächtlichen Initiationsriten,
in denen sie geschlagen und halb ertränkt wurde.
Doch die deutschen Behörden haben den Asylantrag
für Fanta abgelehnt. Anders als etwa in den USA oder
in Kanada gilt drohende Genitalverstümmelung hier
nicht als Asylgrund. Wata und Fanta werden nun aus
humanitären Gründen geduldet - ein jederzeit widerrufbarer
Status, ein Leben mit reduzierter Sozialhilfe
und praktisch ohne Chancen auf Arbeit und Integration.
Hintergrundinformationen
Über Jahrhunderte, im Osten Afrikas z. T. bereits über
Jahrtausende, werden die Geschlechtsorgane von
Frauen verstümmelt, um ihre Sexualität zu kontrollieren.
Diese Praxis, an der laut Schätzungen der UN
über 130 Millionen Frauen weltweit (vor allem in
Mittel- und Ostafrika) leiden, geht nicht auf Vorschriften
des Islam oder anderer Religionen zurück.
Sie ist ein krasser Ausdruck der untergeordneten Stellung
von Frauen und hat schwere seelische und körperliche
Folgen: die Mädchen werden meist ohne
Narkose und unsteril mit Scheren, Messern, Glasscherben,
Rasierklingen oder auch scharfen Steinen
verstümmelt. Viele sterben dabei an Tetanus, Verbluten
und Wundentzündungen. Bei der in Ostafrika üblichen
besonders schweren Form mit Zunähen leiden
die Frauen lebenslang: Geschlechtsverkehr ist gefühllos,
schmerzhaft oder gar unmöglich. Urin und
Menstruationsblut fließen schlecht ab, verursachen
Entzündungen, Abszesse, Vergiftungen.
Die Beschneidung berührt das Problem von Kindesmissbrauch,
der Verweigerung von Gesundheit und
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seelischem Wohlbefinden und verletzt somit grundlegende
Menschenrechte von Frauen und Mädchen,
wie sie in der "Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte"
von 1948 von der Vollversammlung der
Vereinten Nationen verabschiedet wurde.
Seit 1952 gibt es internationale Bestimmungen, die
alle Mitgliedstaaten dazu aufrufen, traditionelle gesundheitsschädigende
Rituale abzuschaffen. Seit
1985 sind in Afrika Aufklärungsinitiativen tätig. Seit
den 90er Jahren wird die weibliche Genitalverstümmelung
allgemein als Menschenrechtsverletzung verurteilt.
Die große Mehrheit der betroffenen Staaten
Afrikas und des Nahen Ostens haben über die Jahre
entsprechende Erklärungen und Entschließungen unterschrieben,
doch in kaum einem dieser Staaten sind
diese Bestimmungen bislang wirksam umgesetzt
worden.
In Deutschland leben schätzungsweise 20 000 Afrikanerinnen,
in deren Ländern die Beschneidung vollzogen
wird. Nur wenige hundert haben aus diesem
Grund für sich selbst oder ihre Töchter ein Bleiberecht
beantragt. Das deutsche Asylrecht berücksichtigt
sie nicht. Es fragt nicht - wie die Genfer Flüchtlingskonvention
es nahe legt - nach der Schutzbedürftigkeit
der Frauen, sondern danach, wer sie
bedroht. Und da ihre Bedrohung von der Familie und
nicht vom Staat ausgeht, bekommen diese Frauen nur
in Ausnahmefällen Asyl.
Zugesprochen bekam es bislang eine Evorerin aus
Magdeburg, deren Richter politische und nicht familiäre
Hintergründe finden konnte: die Frau sollte als
Voraussetzung, um Stammeskönigin zu werden, beschnitten
werden.
Der deutsche Bundestag hat schon 1990 beschlossen,
dass "wegen ihres Geschlechts verfolgte Frauen Asyl
genießen" sollten. Zehn Jahre lang führte diese Absichtsbekundung
zu keinen weiteren Konsequenzen.
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Im Jahr 2000 wurden dann die Verwaltungsvorschriften
der Ausländerbehörde verändert. Danach
gilt drohende Genitalverstümmelung jetzt als Abschiebungshindernis.
Das neue deutsche Zuwanderungsgesetz der rotgrünen
Bundesregierung wird besonders von Menschenrechtsorganisationen
wie Amnesty International
oder Pro Asyl heftig kritisiert. Sie fordern eine klarere
rechtliche Anerkennung nicht-staatlicher oder
geschlechtsspezifischer Verfolgung als Asylgrund.
Flüchtlinge, die wegen drohender Genitalverstümmelung
nach Deutschland gekommen sind, werden auch
zukünftig keinen sicheren Aufenthaltstatus erhalten.
Ob sie hier bleiben dürfen, hängt davon ab, ob sie
nachweisen können, dass ihnen im Heimatland Schaden
an Leib und Leben auch wirklich drohen. Die Beweisführung
hat viele Tücken und Unwägbarkeiten.
Ansätze für ein Gespräch
Notwendig sind begriffliche Klärungen und Hintergrundüberlegungen:
medizinisch-biologischer Art:
Sunna (Beschneidung oder Amputation der Klitoris),
Exzision (Amputation von Klitoris und kleinen
Schamlippen), Infibulation oder pharaonische Beschneidung
(Beschneidung des gesamten äußeren Geschlechts
mit anschließendem Zunähen bis auf eine
einzige, winzige Öffnung)
politischer Art:
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Genfer
Flüchtlingskonvention, Vereinte Nationen bzw. Vollversammlung
der Vereinten Nationen, Großes Asyl,
staatliche Verfolgung, nichtstaatliche Verfolgung,
Einwanderungsgesetz
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soziologisch-geografischer Art:
multi-ethnische Gesellschaften Afrikas, rurale Lebensbedingungen,
schlechte Infrastruktur, starke Traditionsverwurzelung,
Bedeutung von Mythen und
Volksglaube, die Familie als soziales Netz, die Macht
der älteren Generation, die Rolle der Frau, Sexualität
als Tabu, Analphabetismus und geringe Medienverbreitung
auf dem Land
Fragen
Welche Bedeutung hat die Beschneidung für die Eltern-
Kind-Beziehung und die spätere Beziehung zwischen
Mann und Frau?
Welches Rollenverständnis und welche Beziehung
zur Sexualität drückt sich in der weiblichen Genitalverstümmelung
aus?
Abgrenzung männliche Beschneidung - weibliche
Genitalverstümmelung!
Wo lassen sich Bezüge (historischer oder auch psychologischer
Art) zum Leben der Frauen in Europa
herstellen?
Wie lauten die Menschenrechte, die mit der Genitalverstümmelung
verletzt werden?
Welche Zusammenhänge gibt es zwischen Analphabetentum,
Bildung und Wahrung von Menschenrechten?
Warum werden Bestimmungen zur Wahrung von
Menschenrechten wie dem Recht auf körperliche
Unversehrtheit in vielen afrikanischen Ländern wohl
so wenig umgesetzt?
Warum braucht es wohl noch viel Geduld und einen
langen Atem, um die weibliche Genitalverstümmelung
abzuschaffen?
Wie definiert sich das Recht auf Asyl im neuen Zuwanderungsgesetz?
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Welche Schwierigkeiten ergeben sich für Flüchtlinge
bzw. ihre Anwälte, Lebensbedrohung im Heimatland
nachzuweisen?
Wie vereinbart sich das neue Zuwanderungsgesetz
der Bundesregierung mit der allgemeinen Erklärung
der Menschenrechte von 1948 und der Genfer Flüchtlingskonvention
von 1951?
Personen: Bernhard, Renate Dethloff, Sigrid
Bernhard, Renate:
Narben, die keiner sieht : Beschnittene Frauen in Deutschland. Dokumentation / Renate Bernhard; Sigrid Dethloff. - Frankfurt : kfw, 2001. - 1 DVD + Arbeisthilfe ; 29 Min. - Diözesanlizenz;
so - Signatur: V60/76 - Film (DVD)