Eine literarische Idee wie ein Urknall: das verstörte Mädchen läuft dem Vater im Theater davon und gerät auf dem Dachboden in die phantastische Welt belebter Marionetten. Sie stehen für die Kinderliteratur, gleichzeitig aber auch für die Erinnerungen der anwesenden Prinzipalin eines Marionettentheaters. Ihr Leben im Dienst der „Augsburger Puppenkiste“ wiederum spiegelt eine Epoche deutscher Geschichte und Augsburger Kulturlebens. Die Kasperpuppe mit lustiger Fratze und bösen Gedanken schließlich dient als Schlüsselfigur politischer und persönlicher Verstrickungen von Mädchen und Puppenspielerin. Die Magie der Kinderliteratur mit Geschehnissen von 1939 bis 1962 und dem Schicksal realer Personen an bestimmbaren Orten zu verbinden, ist eine in Sprache und Handlungsverlauf gleichermaßen große Herausforderung. Barbara Frischmuth hatte sie in ihrem kürzlich wieder aufgelegten Roman „Macht nix“ erfolgreich angenommen. Der renommierte Autor Thomas Hettche (geb. 1964) geht das Risiko ein, um einem deutschen Kulturphänomen, eben der „Augsburger Puppenkiste“, auf die Spur zu kommen. Von mindestens drei nicht nur westdeutschen Kindergenerationen heiß geliebt, wurde sie vor allem mit Fernseh-Serien das, von dem Hettche beziehungsweise Hätu, die Tochter des Gründers Walter Öhmichen, erzählen will: eine Verbindung von Kindheit, Kunst, Zeitgeschichte und den Gesetzen der „Marionettenführung“: von Schuld und Erfolg. Erstaunlich, wie sich alles zusammenfügt: Kleists immer aktuelle Gedanken „Über das Marionettentheater“ (1810) mischen sich leicht mit Kulturdialogen in Kriegs- und Nachkriegszeit. Das Fliegen der Marionetten, das auch dem Mädchen mit der Kunst der Puppenführerin zuteil wird, ihre nicht am Boden haftende Existenz ist ein Kleist’sches Bild. Das wie „Alice in Wonderland“ mal große, mal kleine Mädchen begegnet in poetischen Szenen und wilder Action dem „Kleinen Prinzen“, „Urmel aus dem Eis“, dem „Kleinen König Kalle Wirsch“ und vielen anderen Marionetten nach bekannten Kinderbüchern. Eine besondere Rolle spielen die Figuren aus Michael Endes „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“. Jim Knopf, der Nachfahre des Schwarzen der Heiligen drei Könige, begegnet dem Leser auf beiden Erzählebenen. Es gibt eine fast groteske Szene, in der die junge Puppenspielerin auf den versifften Autor in seiner Schwabinger Wohnung trifft, um mit ihm über die Marionetten-Fassung seines ersten Kinderbuches zu sprechen. Zwei Menschen, die nicht wissen, welche kulturpolitische Bedeutung ihrer Arbeit einmal zukommen wird. Vor allem aber bedient sich „Herzfaden“ Michael Endes zwanzig Jahre später veröffentlichen Welterfolges „Die unendliche Geschichte“. Auch hier flieht ein Kind auf den Dachboden, um in der Auseinandersetzung mit phantastisch verfremdeten Erlebnissen sein Ich wieder- und zum Vater zurückzufinden. Und wie bei Ende werden Realität und phantastisches Geschehen in unterschiedlichen Schriftfarben voneinander abgesetzt. Ein kleiner Hinweis auf die Herkunft dieses Literaturzitates hätte nicht geschadet. Die Rückblicke von Hatü führt Hettche als den realistischen, wenn auch nicht immer authentischen Teil des Buches ein. Als Kindheitstraum und Jugendeindrücke kommen Schlüsselszenen von Krieg, Judenverfolgung und Wiederaufbau merkwürdig klischeehaft und auch ´mal kitschig daher. Hier erinnert sich jemand und ein Autor trimmt diese Erinnerung auf wiedererkennbare deutsche Geschichte. Die Wahrheit aber wird in der rot gedruckten Phantasiewelt auf dem Dachboden erzählt. Folgt man dieser Erzählstruktur, ist das fortgesetzte Spiel mit Realität und Wunschdenken der Augsburger Kulturszene nachvollziehbar, auch wenn die Vielzahl der Daten, Personen und Räume manchmal argwöhnen lässt, der Autor liefere eine Auftragsarbeit des Kulturamtes der Stadt Augsburg ab. Das Böse aber kommt auch hier nicht aus den Kinderbüchern. Eine Kasperfigur – entnommen der Horror-Tradition mörderischer Clowns – übernimmt diesen Part. Sie trägt die Gemeinheit, die Gewalt, den Krieg in sich. Hatü hat den Kopf als junges Mädchen selbst geschnitzt und ihn in seinen Gesichtszügen unbewusst zur allgegenwärtigen antisemitischen Karikatur gemacht, vor der sie sich dann fürchtet – weil auch sie vom Nationalsozialismus indoktriniert ist. Kasperltheater gehörte zur nationalsozialistischen Truppenbetreuung im Zweiten Weltkrieg, es gab – nicht als Kasper – eindeutig antisemitisch „inspirierte“ Puppenfiguren. Hettche wagt dieses Bild von deutscher Schuld und der Zerstörung jeder Unschuld im Kinderkosmos, ein Tabubruch, zu dem man ihn nur beglückwünschen kann. Die deutschsprachige Kinderliteratur kennt ganz wenige literarische Orte: Berlin, Wien, München, Hamburg, Graubünden vielleicht. Vor Hettche ist niemand darauf gekommen, obwohl wir es doch alle immer schon wussten: Augsburg!
Personen: Hettche, Thomas Beckmann, Matthias
Hettc
Hettche, Thomas:
Herzfaden : Roman der Augsburger Puppenkiste / Thomas Hettche. Mit 27 Zeichn. von Matthias Beckmann. - Köln : Kiepenheuer u. Witsch, 2020. - 279 S. : zahlr. Ill.
ISBN 978-3-462-05256-5
Schöne Literatur - Buch