Verlieren, scheitern und stark sein. Ein Autor würdigt seine Eltern in einem Roman über deren Lebens- und Liebesgeschichte. (DR) David Safiers jüdischer Vater Joschi wächst in Wien auf und muss bei seiner Flucht 1938 seine Eltern zurücklassen. Außer seiner Schwester und einer Kusine verliert er alle Angehörigen, auch seine erste Liebe Hedy. In Palästina versucht er sich ein neues Leben aufzubauen. Mit Alkohol betäubt er seinen Dauerschmerz: über so viele ausgelöschte Familien und darüber, dass auch seine Familie nach ihm enden wird, weil seine Ehe mit Dora kinderlos bleibt. Als Soldat im israelischen Unabhängigkeitskrieg ist nun auch er für den Tod anderer Menschen verantwortlich... Um den ewigen Kreislauf der Schuld zu durchbrechen, quittiert Joschi den Armeedienst, ist als Seemann weltweit unterwegs und kommt Ende der 1950er Jahre erstmals wieder ins Wirtschaftswunderland, um seine Schwester zu besuchen, die – für ihn unerklärlich! – mit ihrem Mann ins Land der Täter zurückgekehrt ist. Alle gleichaltrigen und älteren Deutschen lösen bei Joschi reflexartig die »Schuldvermutung« aus (S. 189). Safiers Mutter Waltraut ist ein Kriegskind aus Bremen und wächst unter ärmlichsten Bedingungen auf. Als »Löwin« verschafft sie sich ohne Schulabschluss die Ausbildung zur Parfumverkäuferin bei Karstadt – ein Traumjob für damalige Verhältnisse. Mit den Jahren gewinnt die attraktive junge Frau auch an Selbstbewusstsein und Schlagfertigkeit. So hätte die Liebesgeschichte zwischen Waltraut, der verwitweten Mutter einer kleinen Tochter, und dem 20 Jahre älteren »Seemann« auch beinahe geendet, bevor sie richtig begonnen hat. Aus Liebe zu Waltraut entscheidet sich Joschi für einen radikalen Neubeginn und eine gemeinsame Zukunft in Deutschland. Dem Paar stehen schwierige Zeiten bevor; nicht nur deshalb lautet Waltrauts Devise »Leben heißt leiden.« Das Leben von Joschi und Waltraut wird in abwechselnder, manchmal rascher Folge und mit stilistischem Geschick erzählt. Das Gerüst aus zeitgeschichtlichen Fakten, biografischen Daten und Eigenschaften der Haupt- und Nebencharaktere füllt Safier mit empathischer Phantasie und schafft damit einen flüssig lesbaren Roman. Dem Autor gelingt eine glaubhafte Annäherung auch dann, wenn er aus der Sicht des Kindes Waltraut erzählt. Sobald Safiers eigene familiäre Erinnerungen einsetzen, werden aufmerksame Leser*innen eine verständliche, leichte Änderung im Erzählverhalten feststellen. Das tut dem Lesegenuss jedoch keinen Abbruch – breite Empfehlung!
Personen: Safier, David
Safie
Safier, David:
Solange wir leben : Roman / David Safier. - München : Kindler, 2023. - 454 Seiten
ISBN 978-3-463-00030-5 Festeinband : EUR 24,70 (AT)
Schöne Literatur - Buch