Der doppelköpfige Adler oder Das Glück kein Irrer zu sein Der Erstlingsroman von Carmine Abate erzählt das Leben eines kleinen Jungen in einem albanischen Dorf in den Bergen Kalabriens und stellt diese Idylle der Kälte der Fremde - mag diese nun Deutschland, "Merika" (Amerika), Trentino oder Fortschritt heißen - gegenüber. Diese Spannungsachse Heimat-Fremdsein findet ihren Schnittpunkt im Erleben des achtjährigen Costantino. Carmine Abate, selbst Angehöriger der albanischen Minderheit Süditaliens, entwirft im Roman eine Milieubeschreibung jenseits des erhobenen Zeigefingers, eine Suche nach den Wurzeln einer Kultur, deren sagenumwobene Herkunft nur mühsam über lückenhaft überlieferte Rhapsodien aufgeschlüsselt werden kann. Durch den kindlichen Blick Costantinos bleibt die Beschreibung frei von jeder pathetischen Klage. Selbst den dramatischsten Liebes- oder Todesfällen kann die distanziert naive Betrachtung ein Lächeln abgewinnen. Um den Jungen gruppiert sich eine Reihe naher und ferner Verwandter, die - obschon lebhaft gezeichnet - in ihren Handlungen nicht frei sind. Auf märchenhafte Art und Weise personifizieren sie Gemeinplätze der Gesellschaft. Dieses Rollenspiel wird allein von den beiden Figuren Costantino und dessen Großvater Nani Lissandro durchbrochen. Beide sind Träger der Geschichte, Mittler zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Ihnen allein verleiht der Autor eine gewisse Individualität. Der knochig halblaute, schelmische Großvater ist Costantino ein weiser Lehrer, neckischer Spielgefährte und Vaterersatz zugleich. Lebhaft sind seine Augen und etwas verrostet seine Rhapsodenstimme, durch den Großvater ist etwas von der Vergangenheit, von der alten Tradition bewahrt. Mit leichter Ironie blickt er auf die Geschehnisse in seinem Heimatort. Seine beeindruckende Gestalt ist reich an bunten Facetten. So zieht er in seinem hohen Alter noch Frauen hinter die Büsche und stirbt schließlich von schallendem Lachen geschüttelt an der Küste jenes Meeres, das sein Volk in die rettende Freiheit und ins Jahrhunderte lange Exil gebracht hatte. Der "Mericano", so wird Costantinos Vater in Abwandlung seiner Amerika-Träume genannt, ist Inbegriff des vitalen Arbeitsmenschen. Als Gastarbeiter in Deutschland ist er selten im Dorf und doch genügt von ihm, um alle Probleme, selbst Mordanklagen, zu lösen. Sein Verhältnis zur Tradition ist weit pragmatischer als das des Nani und so mahnt er seinen phantasiebegabten Sohn: "An diese Dinge glaubt man nur, wenn sie vom Vater an den Sohn weitergegeben werden, also nur wenn es sich um etwas Vergangenes handelt, und man glaubt nicht wirklich an die Existenz von Feen, wie es die Magierinnen tun, oder an die Wiedergeburt eines Toten im Körper einer Schlange, so wie deine Mutter." Seine schönen, an Penelope-Decken webenden Töchter werden nach tragischem Liebesleid an anständige Männer verheiratet. Der eine ist ein langer, farbloser Trentiner, den der "Mericano" für die älteste Tochter aus Deutschland mitgebracht hatte, der andere ein pausbäckiger, stets verschwitzter italienischer Dorfschullehrer, der seine große Hingabe und seine Herz-Schmerz-Ausbrüche zwischen Lukrezia, ausgestopften Vögeln, den Armen der Welt und den alten arbresher Bräuchen aufteilt. Gerade diese zwei Figuren brechen zusammen mit Isabella, Costantinos eigenwillige römische Freundin, den Kreis der Dorfgemeinschaft auf, durchbrechen angestammte Gewohnheiten und weisen auf andere Wege. Dieser Roman ist das zärtlich humorvolle Porträt einer traditionellen Gemeinschaft in ihrem Übergang in eine neue Welt. "Große" Themen wie Emigration, Minderheitenzugehörigkeit, Tod, Heranwachsen und Emanzipation vermischen sich mit einer unbändigen Lebenslust und ermöglichen dem Leser ein angenehmes Versinken in eine verloren geglaubte Welt. Besprechung von Jutta Telser *ARGE-ALP Leserpreis 2001*
Personen: Abate, Carmine
Standort: Zell am See
DR Romane, Erzählungen ABAT
Abate, Carmine:
Ballo Tondo - Der Reigen : Roman / Carmine Abate. - Kiel : Neuer Malik-Verl., 2000. - 238 S.
Einheitssacht.: Il ballo tondo. - Aus d. Italien. übers. von Giuseppe de Siati
ISBN 978-3-89029-178-9 fest geb. : ATS 234,00
DR Romane, Erzählungen - Buch: Dichtung