Schubumkehr in der Geschichte Robert Menasse: "Die Vertreibung aus der Hölle". Eine ernsthafte Spurensuche Namen. Schall und Rauch für die einen, Schicksal für andere. Wenn einer z. B. Menasse heißt, dann trägt er offenbar schwer daran. Bis er sich auf die Suche macht, nach seinen Wurzeln, seiner Familiengeschichte. Wenn er dann noch Schriftsteller ist, dann wird aus diesen Recherchen irgendwann ein Buch und zwar ein recht dickes. Es gibt keinen Anfang. Jede Geschichte beginnt schon mit dem Satz "Was bisher geschah" und ist eine Fortsetzung . . . heißt es am Anfang der Geschichte, die vom Portugal des Jahres 1604 in das Wien einer undatierten Gegenwart reicht. Was bisher geschah? In Portugal wütet die Inquisition, die Schweinejagd auf getaufte Juden, die ihrer Religion heimlich anhängen. Der kleine Mane weiß nichts von seiner Herkunft und schließt sich der Meute an, bis sein Vater abgeführt wird. In Särgen liegend gelingt der Familie schließlich die Flucht in die Freiheit, nach Neu Jerusalem, nach Amsterdam. In Wien wird mitten im Jubel um den Staatsvertrag 1955 auf der Straße ein Bub von einem Fleischermeister entbunden. Der kleine Viktor weiß nichts von seiner Herkunft und schließt sich der Meute an, die einen jüdischen Schulkollegen quält . . . Parallele Lebenslinien zieht Robert Menasse quer über die Jahrhunderte, verknüpft sie zu ähnlichen Schicksalen und Erfahrungen, der Erfahrung nicht dazugehören zu dürfen dort, wo sie doch zu Hause waren. ZEITBILDER Übergangslos zappt Menasse zwischen den Schauplätzen, den Epochen hin und her und breitet dabei viel Wissen, Geschichte, aber auch viele G'schichterln aus. Die bis zur Hysterie geistig aufgeladene Atmosphäre der portugiesisch-jüdischen Gemeinde im 17. Jahrhundert, die aus dem kleinen Mane den großen Rabbi Menasseh ben Israel macht, der zum Lehrer Baruch Spinozas wird, ist lebendig nachgezeichnet, nach empfunden. Wohl am eigenen Leib empfunden das nervöse Geistesklima im Wien der späten 60er- und 70er-Jahre, wo Viktor erst als Gymnasiast, später in der trotzkistischen Studentenbewegung ideologisches und erotisches Frustpotenzial aufstaut. Das sich sturzbachartig in einem fatalen Klassentreffen zum 25. Maturajubiläum entlädt. Er outet seine Lehrer als NSDAP-Mitglieder und sitzt darauf mit seiner lebenslang angebeteten Schulfreundin allein vor dreißig Gedecken. HÖLLEN Die stickige Kleinbürgerlichkeit bei Eltern und Großeltern, der Sadismus in der Schule, die Borniertheit in der WG. Die Enge der Religionen, der Ideologien . . . Von der Notwendigkeit der Vertreibung aus solchen Höllen, die wir für eine Art von Heimat halten, solange wir in ihnen gefangen sind, erzählt dieser Roman. Und davon, wie wir später damit umgehen. Wortreich, episodenreich, figurenreich, manchmal gar mit Witz und Ironie. Onkel Erich z. B., ein Schlitzohr und Taugenichts, und sein groteskes Begräbnis im Kreis von Huren, schwarzem Priester und Rabbiner ist ein Kabinettstück für sich. Doch irgendwie scheint der Autor vor seinem Humor zurückzuschrecken, als wär's ein Sakrileg. Viele Jahre hat Robert Menasse an diesem Roman der verschränkten Lebensläufe gearbeitet. Der Schweiß, der ihm dabei vielleicht von der Stirn floss, ist tief ins Buch eingesickert. Weniger Schweiß, weniger Fracht, wäre mehr gewesen. Die "Seligen Zeiten" der "Sinnlichen Gewissheit" sind der "Schubumkehr" gewichen. Rückwärts und Vorwärts in der Geschichte. Doch: Ab wann ist Geschichte Geschichte? . . . "Einerseits morgen, andererseits nie !" *Der KURIER, 14.07.2001* Anita Pollak
Personen: Menasse, Robert
Standort: Zell am See
DR Romane, Erzählungen MENA
Menasse, Robert:
¬Die¬ Vertreibung aus der Hölle : Roman / Robert Menasse. - 1. - Frankfurt am Main : Suhrkamp, 2001. - 492 S.
ISBN 978-3-518-41267-1 fest geb. : ATS 364,00
DR Romane, Erzählungen - Buch: Dichtung