Wer immer noch kein Buch des Südafrikaners John Maxwell Coetzee gelesen hat, dem kann der neueste Roman des Nobelpreisträgers 2003 empfohlen werden: Zeitlupe bietet einen wundervoll lesbaren Einstieg in ein nicht immer leicht zugängliches Werk. Und es ist Coetzees erster Roman seit dem Nobelpreis, was die Erwartungen nicht gerade verringert. Auf den ersten Blick wirkt der Plot allerdings wenig aufregend: Ein 60-jähriger Mann verliert bei einem Verkehrsunfall ein Bein, verfällt in Depression, schließt mit seinem Leben ab. Dann verliebt er sich in seine Pflegerin, die erheblich jünger ist und Mann und Kinder hat, was naturgemäß Komplikationen nach sich zieht. Was das Buch aber ungewöhnlich und faszinierend macht, ist zum einen Coetzees Stil -- schnörkellos, selbstironisch, brillant --, der einen immer weiter in diese Geschichte über Verlust, Altwerden, das Mysterium der Liebe und existentielle Unbehaustheit hineinzieht. Zum anderen gibt es einen Überraschungseffekt, der das Buch mit einem Schlag verwandelt: Auf Seite 92 steht Elizabeth Costello vor Paul Rayments Wohnungstür und nistet sich in seinem Leben ein. Elisabeth -- Coetzee-Leser kennen sie bereits aus zwei anderen seiner Bücher -- ist australische Schriftstellerin, mittlerweile Anfang 70 und so etwas wie das Alter Ego des Autors. Ist Paul also bloß eine Romanfigur Elizabeths? Er ist jedenfalls verwirrt und verärgert über ihr Auftauchen und ihre hartnäckige Einmischung. Doch sie verteidigt sich: "Sie sind zu mir gekommen, mehr kann ich nicht sagen. Sie sind mir begegnet -- ein Mann ohne Zukunft mit einem kranken Bein und einer unpassenden Leidenschaft. So hat es angefangen. Wie es mit uns weitergeht, weiß ich wirklich nicht." Bei einem Autor mit weniger Klasse hätte diese postmoderne Wendung vielleicht die Geschichte zerstört oder banal gemacht. Bei Coetzee aber wird daraus ein Meisterwerk mit doppeltem Boden. Denn auch Elizabeth Costello wird zu einer Figur des -- ihres eigenen? -- Romans, kennt Einsamkeit und Leid des Alters auch aus eigener Erfahrung. Und gleichzeitig ermutigt sie Paul, ihren Slow Man, so der Originaltitel, aus seinem Schneckenhaus zu kriechen und auf seine alten Tage etwas zu wagen, auch einbeinig und unglücklich verliebt: "Werden Sie wesentlich, Paul. Leben Sie wie ein Held. Seien Sie eine Hauptfigur. Wozu sonst leben?" --Christian Stahl *amazon.de*
Personen: Coetzee, J. M.
Standort: Zell am See
DR Romane, Erzählungen COET
Coetzee, J. M.:
Zeitlupe : Roman / J. M. Coetzee. - 1. - Frankfurt am Main : S. Fischer, 2005. - 301 S.
Einheitssacht.: Slow Man. - Aus dem Engl. übers.
ISBN 978-3-10-010833-3 fest geb. : Euro 19,50
DR Romane, Erzählungen - Buch: Dichtung